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und Nachwort von Ulrich Kautz
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Ein vermeintlicher Herr

Roman von Feng Li

   

Aus dem Chinesischen übersetzt von Ulrich Kautz

Umschlagbild unter Verwendung einer Skizze von Ni Shaofeng 倪少峰

 
   

Reihe Phönixfeder 1
OSTASIEN Verlag
Hardcover (21,4 x 12,5 cm), 302 Seiten.
2009. € 24,80
ISBN-13: 978-3-940527-14-1 (9783940527141)
ISBN-10: 3-940527-14-9 (3940527149)

Wer nicht nur die Übersetzung des Romans lesen möchte, sondern auch Interesse an der 2001 beim Verlag Yunnan renmin chubanshe erschienenen Originalausgabe von Suowei xiansheng hat, kann beide Bände zusammen zum Preis von € 36,80 beziehen.

Vertrieb: CHINA Buchservice / Bestellen

 
   

Der Roman erzählt, ironisch zugespitzt, die Geschichte eines Mannes in mittleren Jahren – unglücklich verheiratet, zeugungsunfähig, mit spärlichem Haarwuchs –, der sich Mitte der neunziger Jahre des 20. Jh. als Leiter eines "Forschungsinstituts für Kultur" in einer chinesischen Provinzstadt vornimmt, wenigstens einmal im Leben etwas zustande zu bringen, das seinen Prinzipien und innersten Wünschen entspricht. Er verstrickt sich dabei jedoch in eine Farce, an deren Ende er – nein, nicht ganz mit leeren Händen dasteht, sondern, immerhin! – die Frau seines Lebens gefunden hat, eine ebenso spröde und unkonventionelle wie intelligente und liebesfähige Persönlichkeit.

Der Originaltitel dieses Romans von Feng Li 冯丽 (in China bekannter unter ihrem Pseudonym Pipi 皮皮) lautet: Suowei xiansheng 所谓先生. Der Roman erschien im Jahr 2001 im Provinzverlag Yunnan renmin chubanshe 云南人民出版社 in Kunming. Ein Jahr später entstand in Taiwan bei dem auf Autoren aus der VR China spezialisierten Literaturverlag Yifang wenxue chubanshe 一方文學出版社 eine Ausgabe in Langzeichen. Im Jahr 2005 publizierte der renommierte Literaturverlag Renmin wenxue chubanshe 人民文学出版社 in Beijing eine weitere Kurzzeichen-Ausgabe. 2006 erschien eine Übersetzung ins Vietnamesische.

 
   
   
Nachwort des Übersetzers  
   

„Ich habe mir immer gewünscht, eine heitere, optimistische alte Dame zu werden. Es wäre mir egal, ob sie schön wäre oder nicht, aber lachen können müsste sie!“

Die das 1997 in einem Brief schrieb, Feng Li, ist von diesem ihrem erklärten Ziel zwar noch weit entfernt (sie wurde ja erst am 25. Januar 1963 geboren, in Shenyang, der Hauptstadt der nordostchinesischen Provinz Liaoning), doch zumindest die Fähigkeit zu lachen kann sie schon einmal als „erreicht“ verbuchen. Schenkelklopfer freilich kämen bei ihr nicht auf ihre Kosten; Feng Lis Humor ist von anderer Art, wie Leserinnen und Leser des vorstehenden Romans wissen. Zurückhaltender, dabei gelegentlich durchaus auch scharfer Witz, feine Ironie, geistvolle Satire – in der chinesischen Literatur eher selten – macht ihre Stärke, ihre Unverwechselbarkeit im vielstimmigen Chor der zeitgenössischen chinesischen Literatinnen aus, zu dem neorealistische Autorinnen wie Chi Li oder Fang Fang genauso gehören wie surrealistisch beeinflusste – Can Xue, Liu Xihong oder Tie Ning – und,  ja doch, auch die Unterhaltungs- bzw. Trivialschriftstellerinnen vom Schlage einer Wei Hui.

Begonnen hat Feng Li, nach ersten Schreibversuchen Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre und ihrem Studium der Literaturwissenschaft in Shenyang, als Journalistin in Tibet (1985–1990). An diesen Sehnsuchts­ort so vieler Dichter und Möchtegern-Dichter – damals „fiel jedes Blatt, das sich vom Baum löste, zwei Poeten auf den Kopf“ – kam sie der Liebe wegen. Denn ihr, inzwischen freilich längst ehemaliger, Gatte war bei einer Zeitung in Lhasa tätig. Dieser Mann, der Schriftsteller Ma Yuan, war damals einer der einflussreichsten Pioniere der modernen chinesischen „Avantgarde“-Literatur. Beeinflusst von der nach dem Sturz der „Viererbande“ und der nachfolgenden graduellen Öffnung des Landes nun auch in China zugänglichen ausländischen Literatur praktizierte er eine höchst originelle Kombination von tibetisch-religiösen, teils mystischen Stoffen und „westlichen“ literarischen Formen und narrativen Techniken. (Ein kleiner, ironischer Nachhall der kontroversen Diskussionen, die Ma Yuan damit auslöste, findet sich ja auch in vorstehendem Roman.)

Für Feng Li waren das Erlebnis Tibet und der Einfluss Ma Yuans die entscheidenden Impulse bei ihren ersten Schritten als Schriftstellerin. Wegen der Erzählungen, die seit 1987 in verschiedenen Zeitschriften erschienen, wurde sie von der Fachkritik zusammen mit anderen jungen, aufstrebenden Autoren wie Yu Hua und Ge Fei als „Avantgardistin“ klassifiziert – eine zweifelhafte Ehre, die sie, so muss man sich das vorstellen, zunächst den Erfolg beim breiten Lesepublikum kostete. In diesen frühen Erzählungen schuf sie, quasi aus der Sicht eines Kindes, eine utopische Welt ohne Lug und Trug, ohne Ungerechtigkeit oder Existenzsorgen und ohne Gefühlskrisen. Das las sich zwar interessant, war aber doch vom wirklichen Leben allzu weit entfernt, was sie zweifellos auch selbst immer deutlicher empfand.

Lebenserfahrung in mehrfacher Hinsicht brachte der Schnitt, den sie 1990 nach der Rückkehr in die Heimatprovinz vollzog. Sie entschied sich für eine dem außenstehenden Beobachter zunächst recht prosaisch erscheinende Arbeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin für Theatertheorie am Forschungsinstitut für Kunst der Provinz Liaoning. (Kommt uns daran nicht irgendetwas bekannt vor?) Aber was heißt „sie entschied sich“? – nein, die Verhältnisse zwangen sie dazu! Das Leben einer allein erziehenden Mutter, das war Feng Li inzwischen, ist auch in China nicht leicht…

Nachdem diese Phase, die vor allem dem schnöden Broterwerb gewidmet war, gegen Ende der 1990er Jahre zu Ende gegangen war, realisierte sie für ein beliebtes Frauenprogramm des Zentralen Fernsehens mehrere dokumentarische Frauenporträts und war als Verlagslektorin und Übersetzerin tätig. Von ihrer Affinität zu Deutschland und den Deutschen – Feng Li spricht gut Deutsch – rühren gelungene Übersetzungen zahlreicher Kinderbücher her, z. B. Ich sag, du bist ein Bär und Oh, wie schön ist Panama von Janosch. Ein äußeres Zeichen für Feng Lis intensive Beschäftigung mit Kinderliteratur dürfte das Pseudonym Pi Pi sein, unter dem sie in China veröffentlicht: Es leitet sich von dem Namen der von ihr geliebten Astrid-Lindgren-Heldin Pippi Langstrumpf her, in der sie wohl eine Geistesverwandte sieht.

Vor allem aber begann sie wieder zu schreiben – „und plötzlich hatte ich Leser!“, meint sie selbstironisch über diesen Neuanfang. Das lag nicht nur an der Thematik ihrer Arbeiten („viel Liebe…“), sondern sicher in erster Linie daran, dass sie als Persönlichkeit wie auch als Schriftstellerin gereift war, gewissermaßen zu sich selbst und zu einem eigenen Stil gefunden hatte, der nicht mehr als „verwestlicht“ zu bezeichnen ist, wohl aber Anregungen aus der von ihr breit rezipierten westlichen Literatur aufnahm. Ein großer Publikumserfolg wurde der 1998 veröffentlichte erste Roman Kewang jiqing („Sehnsucht nach Leidenschaft“), der wie auch der darauf folgende sehr erfolgreich für das Fernsehen adaptiert wurde (Biru nüren, „Zum Beispiel Frauen“, 2000; der Roman wurde übrigens mit einem Preis ausgezeichnet, den sie bezeichnenderweise abgelehnt hat). Auf diese Weise erreichte sie ein weit größeres Publikum, als es ein Buch allein je könnte; denn auch in China werden Leserinnen und Leser heutzutage immer mehr zur Minderheit gegenüber den (Fern-)Seherinnen und Sehern…

Es sind beileibe keine konventionellen Liebesromanzen, die Feng Li schreibt; Leser ihres dritten, des vorliegenden, Romans (auf Chinesisch 2001 erstmals erschienen) wissen das. Vielmehr handelt es sich stets um originelle, erfrischend ironische, irgendwie – nun ja, bitter-süße (oder zartbittere?) Auseinandersetzungen mit den Konflikten, die jede Liebe zwischen Frauen und Männern begleiten und die zum Beispiel auch existentielle Fragen wie die nach Rolle und Wert der Familie thematisieren. So auch Aiqing juhao („Liebe – Punkt!“, 2005), der Roman, den sie während ihres vom Deutschen Akademischen Austauschdienst ermöglichten einjährigen Deutschlandaufenthalts 2004/2005 schrieb und dessen Verfilmung zurzeit im Gange ist.

Feng Lis neu gewonnener Status als Bestsellerautorin, die gern auch raubkopiert wird (in China ein untrügliches Zeichen für schriftstellerischen Erfolg), ermöglichte ihr die Publikation ihrer Erzählungen in zwei Sammelbänden (Quan shijie dou ba sui, „Die ganze Welt ist acht Jahre alt“, und Weixian de richang shenghuo, „Gefährlicher Alltag“, beide 2000). Hinzu kamen kurz darauf ein Band mit Besprechungen ausländischer literarischer Werke (Rang wennuan shengqi, „Verbreite dich, Wärme!“, 2002) und eine Sammlung kleinerer Prosastücke und Essays (Chumai yangguang, „Sonnenschein zu verkaufen“, 2003). Sogar ihre Kindheitserinnerungen hat Feng Li bereits aufgeschrieben: Bu xiang zhangda, „Ich möchte nicht erwachsen sein“, erschienen 2003, ein wie mit Wasserfarben duftig hingetupftes Porträt des ewigen Kindes Pippi oder vielmehr Pi Pi. Vielseitig interessiert, wie sie ist, legte sie als bisher letzte größere Arbeit Andongniaoni caixiang („Mutmaßungen über Antonioni“, 2008) vor, ein ungewöhnliches, eher literarisches als filmwissenschaftliches Porträt des auch in China sehr bekannten italienischen Regisseurs.

So produktiv sie ist, so kritisch sieht Feng Li die eigenen Hervorbringungen. Von dem vorliegenden Roman jedoch sagte sie im Gespräch, er sei „bisher der einzige, mit dem ich einigermaßen zufrieden bin – Gottseidank habe ich (bis 2004) nur drei Romane geschrieben, nicht dreißig, sonst müsste mir ja der Führerschein entzogen werden… Beim Schreiben musste ich öfter selbst schmunzeln, weil alles, was in dem Buch passiert, wirklich zum Lachen ist. Später aber sah ich es mit anderen Augen; denn diese lächerlichen Begebenheiten sind ja aus dem Leben gegriffen – das ganze Leben besteht größtenteils daraus. Und da vergeht einem das Lachen.“

Manche Rezensenten konstatieren heute „Abgeklärtheit“ in den Werken der Schriftstellerin, vielleicht – heißt es gelegentlich – sogar eine gewisse Deprimiertheit. „Im Grunde“, sagt Feng Li hierzu, „bin ich tatsächlich nicht optimistisch; mich als Pessimistin zu bezeichnen, wäre gar nicht so sehr übertrieben… Und ja, ich bin manchmal deprimiert, aber das ist doch etwas ganz Natürliches. Eine Frau meines Alters, die kein bisschen deprimiert ist, wenn sie ihre Familie, ihren Beruf, ihr Leben überdenkt, eine solche Frau wäre nicht normal!“

Was den von manchen Kritikern vermissten, einst für sie so typischen Gefühlsüberschwang betrifft, so meint sie heute: „Gefühle sind für das Schreiben natürlich sehr wichtig, doch nicht mit Vernunft gepaart sind sie allzu einschichtig. Müsste nicht einen Schriftsteller, der sich sein Leben lang nur von seinen Gefühlen leiten lässt, letztlich der Verdacht beschleichen, immer wieder nur den gleichen Roman zu schreiben?“

Feng Li, die sich selbst als „ziemlich sensibel“, zugleich auch als „nicht allzu unentschieden in Bezug auf Prinzipielles“bezeichnet und sich schon allein deshalb lange Zeit lieber zurückzog als den offenen Konflikt zu riskieren, auch auf die – von ihr natürlich klar erkannte – Gefahr hin, dabei verletzt zu werden und zu leiden, hat heute zu innerer Freiheit, zu einer heiteren Souveränität gefunden, die auch in ihrem Werk spürbar ist. Der Leser, der ihre von hochfliegenden Idealen und erregten Träumen erfüllten frühen Erzählungen kennt, ahnt den Preis, den sie bezahlt hat. „Die Würde, die ein Schriftsteller aus dem Schreiben bezieht, die Freude an seinem Schaffen, ja dessen Wert selbst wurzeln in seiner Unangepasstheit, und das bedeutet in erster Linie eine Forderung, die man an sich selbst stellt: Wenn du dich anderen nicht anpassen willst, musst du zunächst alles eliminieren, womit andere dich zur Anpassung bringen können… (Dann) kann es sein, dass du erst nach vielen Jahren oder gar erst nach deinem Tod anerkannt wirst.“

***

Ich betrachte es als eine Ehre, dass Feng Li mich als Übersetzer ihres Romans ins Spiel gebracht hat, nachdem wir uns im Oktober 2004 bei einem Literaturübersetzer-Workshop in München, den wir gemeinsam leiteten, zuerst begegnet sind. Und ich versichere, es war eine Freude, den Text einer Autorin, die – vielleicht nicht ganz zu Unrecht – in mir eine verwandte Seele vermutet hat, ins Deutsche zu bringen. Ich hoffe sehr, auch ihre / unsere Leserinnen und Leser haben das gespürt.

Ulrich Kautz

 
   
   
Leseprobe (S. 122–126)  
   

In diesem Augenblick –
wurde die Tür meines Büros sachte aufgedrückt, dann schlüpfte der Aufdrückende wie der Blitz herein und machte ebenso blitzschnell die Tür leise hinter sich zu. Als ich in dem Ankömmling Yu Kui erkannte, stand er schon vor meinem Schreibtisch, in der Hand eine große Reisetasche.

„Da draußen ist es jetzt gerade ziemlich leer, die hocken alle noch im Konferenzraum und quatschen.“ Mit diesen Worten stellte Yu die Tasche in die Ecke gegenüber meinem Schreibtisch.

All dies – Yu Kuis eunuchenhaft unterwürfiges Lächeln, jene altmodische schwarze Reisetasche, die Vorahnung seiner nächsten Worte – drohte mich zu ersticken, als hätte jemand die Traurigkeit, die mich nach dem Telefonat mit meiner Frau über­kommen hatte, zusätzlich noch mit scharfem Senf überzogen und sie so in Verzweiflung verwandelt.

„Alles gute Dinge! Die nehmen Sie dann mit nach Hause“, sagte Yu Kui, dessen Gesichtsausdruck bei diesen Worten mich schlagartig an meinen vor vielen Jahren verstor­benen Vater denken ließ. Doch Yu war nicht mein Vater, hatte nicht das Geringste mit ihm zu tun.

„Schaff das Zeug weg! Sonst brauchst du dir für den Rest deines Lebens keine Hoffnung auf eine Wohnung zu machen“, zischte ich wutentbrannt. Ich wartete einen Moment, und dann ergriff Yu ohne ein weiteres Wort die Reisetasche und verschwand ebenso heimlichtuerisch wie er gekommen war.

Ich empfand keinerlei Bedauern über meine Kaltherzig­keit.
Yu Kuis Benehmen hatte mich an einen Büroleiter er­innert, mit dem ich als stellvertretender Kreisvorsteher zu tun ge­habt hatte.

Diesem Mann war ein kleiner Fauxpas unterlaufen: Er hatte auf dem Spruchband, das beim Begrüßungsbankett zu meinen Ehren im Saal angebracht war, meinen Namen verkehrt geschrieben. Unvergesslich blieb mir aber nicht der Lapsus selbst, sondern die Art, wie er sich am nächsten Tag dafür bei mir ent­schuldigte. Zerknirscht wäre nicht das richtige Wort, um seinen Gesichtsausdruck zu beschreiben, er sah vielmehr verzweifelt aus, wie ein Mensch, den eine Existenz bedrohende Katastrophe zu überrollen droht. Diese Miene hätte wohl niemand mit jenem be­langlosen Irrtum des Mannes in Verbindung gebracht; die nackte Panik, die aus ihr sprach, hätte eher auf ein ungeheuerliches Ver­brechen schließen lassen, dessen er sich schuldig fühlte.

Mir war dieser Mensch von Stund an unsympathisch, ja, ich entwickelte sogar eine ausgesprochene Antipathie gegen ihn, weil ich mich in seiner Gegenwart stets wie ein Menschen­ fressendes Ungeheuer fühlte.

Der Name Yu Kui kommt dir nicht auf die Wohnungslis­te!, schärfte ich mir ein, während ich unter meinem Regenschirm nach Hause ging. Es regnete schon seit ein paar Tagen, und ich hatte die nassen Hosen und Socken gründlich satt. Der In­stitutschauffeur hatte mir mehrmals angeboten, mich nach Hause zu fahren, aber ich hatte abgelehnt.

Erstens, weil der Heimweg für mich so ziemlich die einzige Ruhepause am ganzen Tage war, die einzige Zeit, wo ich mit niemandem reden musste – es sei denn, ich rempelte verse­hentlich jemanden an und musste mich entschuldigen –, die einzige Zeit, wo niemand mich anblickte und wo auch ich nie­manden, den ich sah, richtig wahrzunehmen brauchte.

Zweitens bin ich nicht gern allein mit Dienstchauffeuren zusammen, sie machen mich nervös.

Lassen Sie mich an dieser Stelle erwähnen, dass jener Fahrer Qingzi heißt. Ich werde auf ihn noch zurückkommen.
Als ich fast schon zu Hause war, rannte ein Mann mit einem Regenschirm an mir vorüber. Er schloss ihn im Laufen, weil ein Bus, den er offensichtlich erreichen wollte, ungefähr fünfzehn Meter entfernt langsam in die Haltestelle einfuhr. Ich hielt meinen Schirm so, dass ich den Mann beobachten konnte. Aus seiner Körperhaltung schloss ich, dass er etwa in meinem Alter sein mu­s­s­te. Ich verfolgte gespannt, wie er sich bemühte, das Tempo zu beschleunigen, und rannte sozusagen im Geist mit ihm mit. Die Arme im raschen Lauf schwenkend, den zu­sammengefalteten Schirm in der Hand, erinnerte er mich an den Schlussläufer einer Staffellauf-Mannschaft beim Endspurt. Er er­reichte den Bus, als dieser sich gerade wieder in Bewegung setz­te, und schlug mit der flachen Hand zum Zeichen seines Sieges kräftig gegen das Blech.

Der Bus hielt, er stieg ein, ich seufzte erleichtert und ent­spannte mich wieder. Bei dem Gedanken an den Mann im Bus fühlte ich mich wie ein Taschendieb nach vollbrachter Tat, hatte ich mir doch unrechtmäßig ein kleines Erfolgserlebnis verschafft, das nicht mir, sondern einem anderen zukam. Deshalb war ich nicht allzu überrascht, als ich zu Hause den Anruf eines fremden Mannes entgegennahm.

Wohin ich ziehe, fragst du? Ich suche den Olivenbaum…

„Sie sind Hu Dong? Haben gerade als Chef im Kultur-Institut angefangen, nicht wahr?“ Der Mann am anderen Ende der Leitung fiel gleich mit der Tür ins Haus.

„Mit wem spreche ich denn, bitte?“

„Haben Sie in letzter Zeit eine Veränderung an Ihrer Frau bemerkt?“, setzte der Mann sein Verhör fort. Nach seiner Stimme zu urteilen, war er nicht mehr jung.

Wenn jemand dich so unverblümt ausfragt, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder ist er dein zukünftiger Vorgesetz­ter, ist dir wohl gesonnen und will dich befördern; oder er ist dein Nebenbuhler und kennt dich daher bereits sehr gut.

Ich zweifelte allerdings, dass mir meine Frau einen Riva­len vor die Nase setzen würde. Sie steht zwar anderen Frauen in nichts nach, aber dazu hätte es doch einer besonderen Ver­anlagung bedurft, und die hatte sie nicht. Dennoch war mir ziemlich mulmig.

„Dass sie neuerdings gefragt werden will, ob sie aufs Klo muss, ehe man badet, ja?“ Diese Frage hatte mir meine Intuition eingege­ben. Wenn meine Frau extra anrief, um mir so etwas mitzuteilen, steckte bestimmt dieser Kerl dahinter. Von allein wäre sie mit Si­cherheit nicht darauf gekommen.

„Sie meinen, ob das was brächte?“ Er ließ mir gar keine Zeit, diese Gegenfrage zu beantworten. „Nun, jedenfalls würde es ihr gut tun. Sie hätte dann wenigstens das Gefühl, dass Ihnen et­was an ihr liegt, oder sogar, dass Sie sie lieben.“ Damit hatte er den Ball, den ich ihm in ironischer Absicht zugespielt hatte, wieder zurückgespielt. Allerdings meinte er es nicht ironisch, sondern verletzend.

„Schön gesagt! Und schön gemacht. Glückliche Frauen – glückliche Welt!“ Ich setzte weiter auf Ironie.

„Aber lieben Sie sie?“, fragte er, jetzt ganz ernsthaft und ohne die vorherige Hänselei.
Ich durfte diesen Mann mit der Stimme eines Greises, der aber höchst vital wirkte, nicht länger unterschätzen. Weder erriet ich sein Alter, noch konnte ich sein Wesen ausloten. Ich gab da­her erst einmal keine Antwort.

„Ich frage Sie von Mann zu Mann: Lieben Sie sie?“, wiederholte er, noch ernster.

„Mit anderen Worten, Sie lieben sie!“ Ich wurde langsam ärgerlich und verlor die Geduld.

 


 
   

Pressespiegel zum Roman und zu seiner Autorin:

"Die Erotik der Glatze – Feng Lis subtil-komischer Roman 'Ein vermeintlicher Herr'" [Abdruck der am 13.09.09 von SWR 2 gesendeten Rezension von Ludger Lütkehaus als Beitrag in der Neuen Züricher Zeitung (NZZ) vom 23.09.09. Der vollständige Text ist als Html-Datei in NZZ Online aufrufbar.]

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"Der Mut zum Unpolitischen", von Andrea Pollmeier, als Beitrag zur aktuellen Diskussion um China als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2009, in: litpromLiteraturNachrichten Afrika, Asien und Lateinamerika, Vollständige Rezension in Nr. 102 (Herbst 2009, Themenheft "Argentinien), 28-29]

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"'Kaderwelsch' – Feng Lis Roman 'Ein vermeintlicher Herr'", von Ludger Lütkehaus
[Gesendet vom SWR 2 am 13.09.2009 in: "Forum Buch"; Redaktion: Katharina Borchardt]

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"Feng Li ist eine wunderbar spöttische Satirikerin, die ihre Figuren dennoch nicht dem Gespött preisgibt. Ein alternder Bürokrat, im Amt vollkommen überflüssig, in der Ehe unglücklich, wird von der Zugluft des Lebens gestreift und tut das Unerwartete: Er wagt den Ausbruch aus den Konventionen und den Aufbruch in eine Welt, in der vielleicht auch ihm so etwas wie Glück beschieden sein könnte. Hochkomisch, tieftraurig, eine chinesische Satire von universeller Dimension."

Karl-Markus Gauß
[In: litprom-Bestenliste – Belletristik aus Afrika, Asien und Lateinamerika:
"Weltempfänger 4/2009"]

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"Ironisch zugespitzt sind manche Szenen dieses aus vielen kleinen Szenen zusammengesetzten Romans, manchmal sarkastisch. Und diese Szenenvielfalt trägt auch zu der Lebendigkeit des ganzen Romans bei."

Hans Stumpfeldt
[Aus Hamburger China-Notizen, Ausgabe Nr. 416 vom 15.07.2009
(Vollständige Rezension als PDF)]

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