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Revolutionäre Jugend
 
   
Zhang Langlang
 
   
1   Ruhiger Horizont
 
   
(3)
 
   

In der Todeszelle war der Kang aus Holz, keine 15 cm hoch und rundum geschlossen. Der Häftling konnte sich nicht darin verkriechen und nichts darin verbergen. Der Kang nahm drei Viertel der Zelle ein, nur an der Tür war ein Streifen Betonboden freigelassen. Dort stand auch ein Wasserklosett; in gewöhnlichen Zellen fehlte sowas. In der Wand hinter dem Klosett war ein Guckloch, verglast. Ein weiteres Guckloch war in der Tür, wie in anderen Zellen. Daneben war ein Knopf, den man drücken konnte, wenn man einen Wärter rufen wollte. Dann fiel draußen eine Klappe an der Zelle herunter, wie im Krankenhaus. Die Tür war doppelt, innen zunächst eine Gittertür wie in einem Zookäfig, dahinter eine dicke eisenbeschlagene Holztür. Unten in der Holztür war ein kleiner Durchschlupf wie für Katzen. Ursprünglich konnte man da Essen durchschieben. Man hatte an alles gedacht. War ein Häftling hier eingesperrt, brauchte die Tür nicht mehr geöffnet zu werden, um ihn essen, trinken, scheißen, pinkeln, schlafen zu lassen.

Ich hatte keinen Boden mehr, ich wollte weiterdenken. Wie ich mir das Gehirn zermarterte, hörte ich, dass jemand die Klappe fallen ließ, um den Wärter zu rufen. Ich hielt den Atem an, lauschte aufmerksam: „Melde dem Sergeanten! Alle mit mir zusammen reingekommenen Häftlinge sind zu Marx gegangen. Weil ich zu wichtigen Fragen aussagen muss, hat man mich übriggelassen. Warum verhört ihr mich nicht? “ Ich erkannte Yu Luokes* Stimme. Er nutzte diese Meldung beim „Sergeanten “, um uns zu sagen, was uns erwartete: Jeder musste sich auf die Hinrichtung vorbereiten.

So war Yu Luoke, das war seine Art. Er ergriff die Initiative, zu jeder Zeit, auch im Gefängnis. Gelassen, furchtlos. So ist er gewesen, seit ich ihn das erste Mal gesehen habe.

Als ich so ein halbes Jahr im Gefängnis gewesen war, hatten sie uns beide in eine Zelle gelegt, in Nr.6. Da war er im Gefängnis bereits berühmt, alle wussten, sie hatten ihn festgenommen, weil er die „Klassenherkunftslehre “ kritisiert und damit im ganzen Land ungeheures Aufsehen erregt hatte.

Zuvor war, gedeckt von der „Abstammungslehre “, nach dem 18.8.[1966] der rote Terror ausgebrochen. Leute schlechter Klassenherkunft gerieten allerorts unter solchen Druck, dass ihnen kaum Luft zum Atmen blieb. Dann änderte sich die Lage wieder, und Yu Luoke nutzte das, um seine Kritik an der „Klassenherkunftslehre “ zu veröffentlichen. In dunkelster Nacht leuchtete sie auf wie ein Komet. Als sein Artikel in einer „Kulturrevolutionären Gymnasiasten-Zeitung “ erschien, hätte man meinen können, das Papier müsse knapp werden im Lande – so strömten von überall her die begeisterten Briefe an Yu und die Redaktion, säckeweise wurden sie herangeschafft, Geld wurde gespendet, Hilfe angeboten – es war ein Wirbel wie auf einem riesigen Tempelfest.

Der zentralen Führung der Kulturrevolution fiel das auf, allen Betroffenen fiel das auf… schließlich erging Beschluss, Yu Luoke festzunehmen.

Er wurde eingesperrt und beugte sich nicht, nie; dem Himmel das Feuer zu rauben, schien seine natürliche Bestimmung. Dass er ins Gefängnis kam, erschien ihm folgerichtig, er sah es als Bühne für seinen geistigen Kampf mit den Autoritäten. Ganz selbstverständlich wurde er zum geistigen Führer der schwachen ungeheuren Schar von Erniedrigten und Verletzten dieser Zeit, er ging ihnen voran und wurde ihr Märtyrer.

Nun hatten sie mir damals neben anderen Verbrechen auch angelastet, ich sei „geistiger Hintermann der Liandong-Gruppe “, mit ihrem Spruch „Der Alte ein Held: der Sohn ein guter Mann “.[1] Denn von meinen Kumpeln hatten viele zum Kern der Liandong gehört. In Wirklichkeit hatte ich, als die Liandong florierte, diesen Abstammungsspruch ganz entschieden abgelehnt. Ich sah da keinen Unterschied zur Rassenlehre der deutschen Faschisten.

Erst als Tantchen Jiang[2] dies Spielzeug[3] weggeschmissen hatte und sie anfingen nachzudenken und sich gar nicht mehr wohlfühlten, erst da sind wir Kumpel geworden. Sie haben mich dann auch mal vor anderen Rotgardisten gerettet.

Als wir alten Freunde kürzlich in Peking zusammenhockten und über die alten Zeiten lachten, meinten alle, mir dies Verbrechen anzudichten sei wirklich verrückt gewesen. Als ihren wahren geistigen Hintermann damals hätte man den Fan von der Erdöl-Hochschule bezeichnen sollen. Ich dagegen hätte sie in die Kultur eingeführt.

Ich bin immer ein Geschichtenerzähler gewesen. Damals, da hatte auf einmal dieser Haufe alter Rotgardisten ganze Tage und Nächte ruhig um mich herum gesessen und vom „Grafen von Monte Christo “ an eine berühmte Geschichte nach der anderen angehört; das hatte ihnen eine völlig neue Welt eröffnet, sie betranken sich am starken Wein des Geistes. Sie gönnten mir keine Ruhepause, gossen mir nur immer wieder Tee ein, zündeten mir eine Zigarette nach der anderen an, holten mir sogar zu essen. Außer, wenn ich mal musste, oder wir schließlich so müde waren, dass uns die Augen zufielen, und wir kurz schliefen, wie wir standen und lagen. Aufgewacht, redete und redete ich weiter.

Damals begannen diese alten Rotgardisten, Bücher zu lesen. Bücher zu finden wurde Mode.

Von meinen Zuhörern haben manche später selbst geschrieben: Guo Lusheng, Mou Dunbai*, Ren Zhiming[4]. Auch Yang Jiping, der die Roten Garden mit auf den Weg gebracht hatte, war damals dabei; ebenso der hochgemute Guo Daxun und Fan, der große Stratege; He, der Kämpfer, dem im ganzen Reiche niemand ebenbürtig war; der alte Hund und die kleine Welle, diese romantischen Ritterbrüder; der Hund wurde später im ganzen Land berühmt; und Su Shai, der als erster auf einer Versammlung laut gerufen hatte, es sollten „einige in der Zentralen Gruppe der Kulturrevolution nicht so spinnen “; und noch mancher andere. „Erinnert euch der Mittagsbrücke, da saßen wir und tranken, und unter uns saß mancher Held… “[5] – Meine Geschichten hatten sie mit einem Mal alle in ihren Bann geschlagen. Dann hörte auch Peng Xiaomeng von der Sache, kam gerannt, hat uns aber verfehlt…

Außer Geschichten hab ich damals auch gern Witze erzählt – während die Behörden jeden aufzuspüren suchten, der Witze über die Fahnenträgerin der Revolution verbreitete. Man kann sich denken, es wäre schon merkwürdig gewesen, wenn sie mich schließlich nicht steckbrieflich gesucht hätten.

Dieser Steckbrief trug ein 20 cm großes Foto von mir, und Gassen und Straßen haben sie damit vollgeklebt. Und am nächsten Tag hatten Yan Xiaomao und noch ein paar alte Kämpfer all die Fotos abgerissen.

Die Militärverwaltungskommmission der Pekinger Polizei[6] hat dann Yu und mich, uns zwei Unruhestifter, die wir zusammenpassten wie Feuer und Wasser, in eine Zelle gesperrt, vielleicht mit Absicht – Gift schlägt Gift nieder?

Jedenfalls hatten sie gewiss nicht erwartet, dass wir zusammenfinden würden. Unser Hintergrund war völlig unterschiedlich, aber wir hatten dieselbe Liebe zur Literatur. Wir hatten auf ganz verschiedenen Ebenen der Gesellschaft gelebt und letztlich doch die gleichen Werte. Der eine war ein rotes Kind von Yan’an, der andere Nachkomme eines „Fabrikherrn “, und völlig unerwartet dachten wir ganz ähnlich.

Zunächst begegneten wir einander mit Vorsicht, wir hielten nichts voneinander. Dann stritten und diskutierten wir, öffneten einander dabei Hirn und Herz. So wurden wir schließlich Freunde. Das hatten sie nicht erwartet und wir auch nicht.

Trotzdem haben wir uns im Gefängnis ganz unterschiedlich verhalten.

Yu Luoke* stand mit den Beamten in ständigem Kampf, er wurde dieses Vergnügens nicht müde. Nicht nur zu seinem eigenen Fall gab er keine Ruhe, er eiferte Song Shijie[7] nach: half anderen Häftlingen, ihre Fälle zu analysieren, schrieb Eingaben für sie, gab gute Ratschläge, wie sie ein mildes Urteil erzielen könnten. Er war ein Kämpfer von Natur aus. Ich war ein völlig verschreckter, verwirrter Student.

Er machte sich mit meinem Fall vertraut und meinte dann, das sei eine komplizierte Geschichte, aus der ich allein nicht herauskommen könne. Er sagte mir, noch vor seiner Verhaftung habe er Verbindung mit Marschall Chen Yi aufnehmen können. Er glaubte an Chen Yi, er sah in ihm einen Mitbegründer unseres Staates, der klar erkenne, was vor sich ging. Er meinte, wenn er wieder draußen sei, könne er gewiss für mich vermitteln; sonst könne man bei Verbrechen wie den meinen, wenn man’s nicht richtig anstelle, leicht den Boden unter den Füßen verlieren.

Das geltende Recht schien er besser zu verstehen als ich. Als ich ihm zuhörte, bekam ich’s mit der Angst, es schien mir aber auch, dass er den Fall nicht ganz erfasste. Ich dachte: Er versteht nicht, wie es auf den oberen Ebenen unserer Partei zugeht. Er ist außerstande, zu tun, was er da tun will. Dennoch freute mich, was er sagte, seine gute Absicht rührte mich tief.

Als ich später in die Studiengruppe des Gefängnisses versetzt wurde, glaubte ich, mein Problem sei gelöst. Da tauchte dieser Ding auf, der so viel plapperte. Der lange Ding, der die Verhöre in Yus Fall leitete. Häftlinge fragten ihn vorsichtig, wie es mit Yu Luoke gehen werde. Der lange Ding fletschte bald die Zähne vor Hass: „Dieser stinkende sture Wicht! Gibt sein Verbrechen partout nicht zu und denkt, ich krieg ihn nicht. Na schön, ich glaub nicht an den krummen Hund, vertun wir ruhig weiter unsre Zeit! Schließlich kommt doch noch der Tag, an dem er dran ist! “

Yu und der lange Ding hatten’s unseligerweise beide getroffen. Yu und ich kamen beide in die Todeszellen.

Nie hätte ich gedacht, dass Yu, der alles durchdacht hatte und in keinem Sturm vom Kurs abwich, schließlich hier landen würde. Aber auch hier verhielt er sich aller Achtung wert. Keiner ist je wie er, selbstbewusst und selbstbestimmt, auch nicht einen Zoll vom Weg abgekommen.

Am Morgen mochte man uns hinrichten. Wer konnte diesen Abend schlafen? Ich lag auf dem Kang, schaute auf die Glühbirne in ihrem Drahtkäfig hoch oben an der Decke. Ding dang, ding dang. Klirrend kamen im Gang noch mehr Menschen herein. Also waren wir eine neu hereingekommene Gruppe. Also waren wir als nächste Gruppe dran. Seither haben mich viele gefragt: Hatte ich damals Angst?

Mit „Angst “ sind meine Gefühle damals schwer wiederzugeben. Ich war wie eine Maus, die auf eine Schlange starrt, zitternd vor Furcht. Mein Gehirn war leer. Ich. Todesstrafe. Wie kamen die zwei zusammen? Ich verstand nichts. Meine „Verbrechen “ waren nichts als „dummes Geschwätz “ gewesen. Musste ich dafür unbedingt erschossen werden? Aber es bestand kein Zweifel: Dies war hier nicht die Massendiktatur, dies war kein leerer Lärm, um die Leute zu erschrecken. Dieser Topf war aus Stahl.

Sie haben dich mit anderen in die Todeszelle gebracht. Das ist eine Tatsache. Yu Luoke ist nur wegen eines Aufsatzes hier gelandet. Er hat auch nicht gedacht, er könne in die Todeszelle kommen. Und du erst – hast doch viel mehr „Verbrechen “ begangen als er.

In meinem Kopf lief in dieser Nacht mein Leben ab, wie in einem Film, in höchster Geschwindigkeit, wieder und wieder, Szene für Szene. Ich prüfte mich. Was hatte ich eigentlich falsch gemacht? Seit vielen Jahren hatte eine idealistische Erziehung mich glauben lassen, dass es auf der Welt Wahrheit gibt. Wenn es also Wahrheit gab, dann gab es einen Maßstab für sie, gab es daher einen Unterschied zwischen Richtig und Falsch. Vom geltenden Recht her prüfte ich mich aufs Strengste und kam zu dem Schluss, dass der Fehler nicht bei mir lag, sondern bei ihnen. Ich hatte Recht, sie hatten Unrecht. Damit schien ich auf etwas festeren Grund zu gelangen. Mir fiel ein, wie wir uns im Gefängnis mit dem Schreiben von Gedichten amüsiert hatten. Ich hatte geschrieben:

Jung und vergnügt sind wir doch!

Ihr sperrt uns für die Freiheit ins Loch.

Den Weg haben wir selber gewählt,

glaubt nicht, wir bereuen das noch!

Ich wusste: Als ich das schrieb, sah ich darin keinen Angriff auf Staat und Gesellschaft. Die große Flut der Geschichte reißt an ihren Wendepunkten immer Menschenopfer mit sich. Mein größter Fehler lag nur in drei Worten, „für die Freiheit “ – im freien Schaffen, im freien Denken, in freier Rede.

Mir war klar, in dieser Zeit gestattete die Gesellschaft derlei sogenannte unabhängige Überlegungen nicht. Ich hatte trotzdem eine solche Art der Existenz gewählt. Und jetzt spielen diese Leute mit dir um die Wahrheit und wollen dich wahrhaftig umbringen. Siehst du noch immer keinen Angriff in deinem Gedicht? Ich wusste: Nach den Verfahrensregeln der Diktatur bleibt das Ergebnis das gleiche, was immer du jetzt noch sagst. Da dies so ist, können die Zeilen dieses Gedichts auch weiterhin in meinem Herzen klingen, mir festen Grund unter den Füßen geben!

Nirgends auf der Welt gibt’s ein Mittel gegen Reue zu kaufen. Ich war ein Junge gewesen, der sich für Literatur und Kunst begeisterte, hatte Gedichte geschrieben und gemalt und die Mädchen sehr geliebt, hatte mich unbewusst vor ihnen aufgespielt. Am meisten bereute ich, dass ich nie mit irgendeiner von ihnen eine richtig schmerzhaft romantische Liebesgeschichte erlebt hatte. Es ging mir ähnlich wie in Zolas „Rougon-Macquart “ dem jungen Offizier, der sich von seiner Verlobten verabschiedet und am nächsten Tag auf dem Schlachtfeld fällt, ohne je das Lager mit ihr geteilt zu haben, zum ewigen Bedauern.

Ich hatte mich am 1.5.1968 in Longjing bei Hangzhou mit Ding’ao verlobt. Am 14.6.1968 war ich nach Peking in Polizeihaft gebracht worden, am 9.2.1970 in die Todeszelle gekommen, auch zum ewigen Bedauern.

Gut war nur, dass ich beim Abschied zu ihr gesagt hatte: „Warte nicht auf mich, geh deinen eignen Weg, du hast eine glückliche Zukunft; ich bin’s zufrieden. “ So hatte ich nichts auf der Welt, was ich nicht loslassen konnte, musste mich um niemanden sorgen, konnte nur meinem eigenen kurzen Leben ein wenig nachtrauern.

An diesem Abend haben wir im Angesicht des Todes noch eine Abendfeier vor der Hinrichtung abgehalten. Rasch würden wir auf einmal vor dem Ende stehen. Alle zitterten wir in diesem überkräftigen Magnetfeld, jeder hoffte, dass ihm ein guter Abgang gelingen würde. Zum Glück waren wir sämtlich Chinesen. Die chinesische Kultur hat ein stark ausgeprägtes dramatisches Element, das den Chinesen bis in die Knochen dringt (mag sein, dass die seit Jahrhunderten blühende Kun-Oper dieses Element noch verstärkt hat) – die Menschen sind wie Komödianten, ihr Leben ist eine Oper, die das Menschenleben spielt, die Oper das Leben. Dessen letzten Akt durften wir keinesfalls verpatzen.

Ich erinnerte mich an eine japanische Novelle, „Die Umzugsnudeln “: Ein Häftling soll in eine andere Zelle verlegt werden, eine Einzelzelle. Seine Zellengenossen sagen, wer umzieht, muss alle zu einem Festnudelessen einladen, also musst du uns jetzt auch was bieten. Er streckt die Hand durch das Gitter vor dem Fenster, pflückt ein grünes Blatt und spielt den anderen darauf ein Lied.

An jenem Abend haben wir das auch getan, wie sich’s gehört, wir haben auf den Kangs gelegen, jeder auf seinem, und diese Abendfeier abgehalten. Jedesmal, wenn die „Wachtmeister “ oder „Sergeanten “ was hörten, rissen sie ihre Bürotür auf, kamen gerannt, schauten in jede Zelle und fanden die Hinzurichtenden alle friedlich in tiefen Schlaf versunken. Wenn sie mit ihrer Inspektion fertig waren, sind sie wieder in ihr Büro gegangen, haben die Türe zugemacht und sich weiter gewärmt, und wir haben auf den Kangs gelegen und wieder angefangen, leise zu singen.

Ich habe jenes sowjetische Lied gesungen, das ich Yu Luoke beigebracht hatte – „Ruhmreiches Opfer “; es soll Lenins Lieblingslied gewesen sein: „Nichts schmerzte euch mehr als nicht frei zu sein, ruhmreich habt ihr das Leben geopfert. In unserem bitteren Kampf habt ihr ruhmreich das Leben geopfert… “ Als ich soweit gesungen hatte, überkam es mich: Dies Lied war für uns hier geschaffen worden! Heiß strömte mir das Blut ins Herz, eine Zeitlang wusste ich von nichts mehr.

Plötzlich summte ich nicht mehr nur leise vor mich hin, ich sang mit aller Kraft, so laut ich nur konnte: „Oh meine Sonne, das bist Du, Du bist es! “, und ich sang das in der Todeszelle auf Italienisch – „O sole mio, sta in fronte a te, sta in fronte a te! “ Das hatte ich noch in der Familie vom Sieben gelernt; und ich nehme an, das war hier eine Erstaufführung. Wenigstens habe ich nicht gehört, dass Wang Jingwei* oder Jin Bihui* jemals Italienisch gelernt hätten. Als stürzte der Himmel ein, kamen im Augenblick die Wachtmeister und Sergeanten auf den Flur gestürzt, trampelten herum, starrten in die Zellen, in denen die Gefangenen so friedlich lagen und alle zu träumen schienen; sie flüsterten durcheinander: „Ein Alptraum? “ „Hat einer eben im Schlaf geschrien! “ „Wie soll einer keine Alpträume haben, wenn er hierher kommt! “ Dann entfernten sich die Schritte allmählich, alle gingen sie wieder. Ich lachte los, Himmel, auf einmal musste ich auch noch lachen. Wir haben an jenem Abend weiter gesungen, brauchten nicht mehr nur ganz leise zu summen, haben auch nicht entfesselt losgebrüllt, nur Lieder gesungen, die alle kannten. Sie haben uns dann auch in Ruhe gelassen.

Als ich begann, das draußen so beliebte italienische Lied „Komm aufs Meer “ (Vieni sul mar) zu singen, verstummten die anderen und hörten mir zu; damals konnten noch nicht so viele dies Lied. Als ich ausgesungen hatte, sagten sie leise: „Schön gesungen! “ Als ich ihre Stimmen hörte, wusste ich, sie waren alle von den Kangs herunter und standen an den Türen neben den kleinen Gucklöchern. Und ich hatte keine Bewegung gehört. Da verstand ich, wie ich’s anfangen musste. Ich streckte auf dem Kang die Beine in die Luft und spreizte sie so weit, dass die Fußkette eine gerade Linie bildete. Dann setzte ich mich wieder und drehte mich um 180 Grad; während des ganzen Vorgangs klirrten die Kettenglieder nicht gegeneinander. Ich saß nun auf dem Kang mit dem Gesicht zur Tür. Ich hatte die Beine immer noch gespreizt. Ich brachte die Füße auf den Boden und stand dann mit gebeugtem Oberkörper auf und stützte mich dabei ganz von selbst neben dem Guckloch ab. Jetzt hörte ich, dass die anderen angefangen hatten, sich leise zu unterhalten. Keiner konnte schlafen. Bald würde niemand mehr aufstehen. Die Zeit des Wachens war unermesslich kostbar geworden.

Wer waren sie, die sich da leise unterhielten?

Suo Jialin und Wang Tao waren beide Bannerleute, aber Suo Jialin sagte, er könne nicht zu den Kindern der Acht Banner gezählt werden. Denn sein Vorfahr Suo San gehörte zur Inneren Behörde, heute würde man sagen, er war unter den Mächtigen im Palast eine führende Figur. In ihren Kreisen standen die Angehörigen der Inneren Behörde noch eine Stufe höher als die Leute der Acht Banner.[8] Suo hatte sich von klein auf in jeder Art Kampfsport geübt; diese Kampfsportfanatiker verehrten Prinz Damusu.[9] Wang Tao dagegen sah als eleganter Experte aller müßigen Künste sein Ideal in Yanqing, dem Stromer.[10] In den Augen der Regierung stellten solche Knaben selbstverständlich eine reaktionäre Gruppierung dar, von der es hieß, sie habe etwas schaffen wollen, was es nie geben durfte: eine „Landesrettungstruppe “.[11] Jetzt unterhielten sie sich gemütlich, ohne eine Spur von Angst und Zittern.

Song Huimin sollte ein „historischer Konterrevolutionär “ sein, also eine „konterrevolutionäre “ Vergangenheit haben. Während einer Kampagne wollte er sein Leben retten und floh über den Amur. Es hieß, die „Sowjetrevisionisten “ hätten ihn in einen Sack gestopft und zurück über die Grenze geschmissen. Auch er plauderte angeregt, mit Tian.

Dieser Tian, Tian Shuyun, war eine sonderbare Erscheinung. Zu Sun Xiuzhen hatte er gesagt, um einer glücklichen Zukunft willen müsse sie einige Briefe in einen Wagen der sowjetischen Botschaft werfen. Sun hatte sich nie für Politik interessiert. Dennoch hatte sie kein besonders glückliches Leben gehabt. Sie hatte sich für den Mann, den sie liebte, in Gefahr begeben, und überraschenderweise war es ihr neunzehnmal gelungen, seine Briefe in diese Wagen mit den schwarzen Nummernschildern zu werfen, ohne auch nur einmal erwischt zu werden. Das zwanzigste Mal aber hatte sie sich wohl nicht gut genug umgesehen oder war in eine Falle der Polizei gegangen. Jedenfalls hatte man sie bald danach beide verhaftet.

Sieben und ich hatten uns nicht nur mit „bösartigen Angriffen auf die zentrale Führung “ vergangen, sondern auch noch mit dem „Verbrechen “ einer Verbindung mit dem Ausland. Der Chef der Untersuchungsgruppe für meinen Fall erklärte mir: Ich war faktisch bereits französischer Spion. Mein Agentenführer war die Gaststudentin Marianne. Gerade als man mich verhörte, berichtete die Volkszeitung, dass in Frankreich die Roten Garden auf die Straße gegangen waren, und eine Anführerin dieser Studenten war Marianne. Man brachte sogar ein Foto von ihr. Sie hatten in Paris mit Maos Slogan „Nieder mit den Rechten der Bourgeoisie! “ demonstriert, die Leute nannten sie „maoistische Rotgardisten “.

Ich fragte den Gruppenchef: „Meine Agentenführerin ist also maoistische Revolutionärin? “

Er antwortete gelassen: „In Paris mag sie Revolutionärin sein, maoistische Rotgardistin oder was. Hier ist ihr Status: französischer Spion. “

„Sie sagen: Ich bin Spion, ich habe Informationen verkauft. Ich hab’ doch keinen Pfennig von ihr bekommen. “

„Du hast also aus eigenem Antrieb Informationen geliefert. Das zeigt: Du bist ganz besonders reaktionär. “

Neben Yu Luoke gab es unter uns noch einen ganz ungewöhnlichen Menschen. Das war Shen Yuan*.

Shen Yuan kam vom Institut für Zeitgeschichte an der Akademie der Wissenschaften. Er war berühmt als hochbegabter junger Wissenschaftler. Er hatte an der historischen Fakultät der Peking-Universität studiert und war im dritten Studienjahr als „Rechter “ vom Studium ausgeschlossen worden. Als nach der Notzeit [der Hungersnot 1960/61] die Richtlinien gemildert wurden, hatten der damalige Institutsleiter Li Shu und der Akademieleiter Liu Daosheng ihn außer der Reihe eingestellt. Deshalb waren die beiden dann in der Kulturrevolution unzählige Male „bekämpft “ worden [d.h., sie wurden auf Massenversammlungen zusammengeschrien und geschlagen]. Wie unerträglich erst Shen Yuans Lage war, lässt sich denken. Schließlich schminkte er sich als Schwarzer und versuchte, so in die sowjetische Botschaft (nach anderen in die von Mali) zu entkommen. Damit war er natürlich ein Kapitulant, der seinen Landesverrat von langer Hand geplant hatte.

Und dann war da noch, und noch, und noch…Wir plauderten; manche kannte ich nicht, manche gut. Jetzt standen wir alle am gleichen Horizont zwischen Leben und Tod.

All das war nicht weiter merkwürdig, so ist das seit Jahrtausenden gewesen: willst du wen zum Verbrecher machen, wird’s dir an Namen für seine Untaten nicht fehlen.

Wir unterhielten uns gelassen über unsere Fälle und stellten fest, sie hatten uns allen derart hohe Hüte aufgesetzt [= so fürchterliche Untaten zugeschrieben], dass wir nun ganz genau die richtigen Plätze einnahmen. Wir plauderten und plauderten. Wir nahmen an, wir würden in wenig Tagen gemeinsam die gelben Quellen erreichen. Wir scherzten: Keiner solle sich am Ende noch einnässen, jeder etwas Haltung bewahren. Wer zuerst vor Gott erscheine, solle nicht gleich gierig alle Bonbons auffressen. Da werde doch nichts mehr rationiert sein… Wir hielten vorsichtig ein wenig inne, warteten, bis alle im Einklang waren und sangen dann wieder zusammen im Chor. In diesem Magnetfeld schien der feste Punkt gefunden, auf den wir am Ende unsere Selbstachtung gründen konnten. Jetzt waren wir so ausgelassen wie eh und mit uns selbst doch einigermaßen zufrieden.

Wir redeten, wir redeten. Jemand sagte: „Was mögen die Leute daheim jetzt denken? “ – „Genau, genau, wenn die wüssten, dass wir zu guter Letzt noch so ein Abendvergnügen haben, dass wir uns amüsieren, das wäre gut. “ – „Ich meine, wer von uns hat noch am ehesten eine Chance, hier rauszukommen? “

Wir waren uns einig, das konnte nur dieser Winzling sein. Das war ein kleiner Mönch, der gehörte nun wirklich nicht auf den Richtplatz. Seinen Namen habe ich tatsächlich vergessen. Ich nenn’ ihn mal Goldbohne.

Ich musste lachen: „Wer hätte gedacht, dass wir jetzt noch eine Soiree abhalten, noch Lieder singen, uns noch unterhalten! “

„Ja, eben, das nennt man doch: Ein Liedchen auf der Brücke singen, die auf die Heimat blickt[12] – ein Reigen seliger Geister, die vom Tod nichts wissen! “

„Sind eure Herzen wie klare Spiegel, oder lässt euch noch etwas nicht los? “, fragte der kleine Mönch. „Sollte ich wirklich noch davonkommen, richt’ ich’s gewisslich aus! “

„Also wir möchten unsere Familien wissen lassen, in der letzten Stunde sind wir nicht durchgedreht, nicht vor Angst erstarrt, haben nicht gezittert und nicht gebebt, die letzten Schritte des Lebens sind wir gelassen gegangen. Junge, falls du rauskommst, das musst du unseren Familien sagen, sag ihnen: sie waren vergnügt bis zuletzt! “

„Gut! Macht euch keine Sorgen, Brüder. Kommt die Zeit, richte ich’s aus! “

Denkt nicht gering von Goldbohne, dem kleinen Mönch. Er hat sich stets mit Anstand gehalten.

Am nächsten Tag ging’s los. Wir hatten gedacht, sie würden uns zur Marco-Polo-Brücke[13] schaffen. Falsch gedacht, so billig sollten wir nicht davonkommen. Die Regierung hatte über jeden von uns ein Dossier seiner Verbrechen zusammengestellt und alle diese Dossiers bereits an jede Einheit in der ganzen Stadt Peking verteilt, bis hinab zu den Straßenkomitees, mit der Anweisung, diese Angaben jedem einzelnen Bewohner der Stadt zu übermitteln. Ganz überraschend waren wir plötzlich berühmt.

Wir sollten tatsächlich unser Urteil von allen Gruppen des Volkes erhalten, dem Volke als negatives Lehrmaterial dienen. Das war der uralte Trick: ein Huhn schlachten, um alle Affen zu schrecken.

Mit der ersten „Kampf- und Kritikversammlung “ war mir das Ziel der Übung ziemlich klar.

Außer den Handschellen und Fußketten, die wir schon vorher trugen, band man uns noch einen Strick um den Hals. Zwei Polizisten standen links und rechts von mir und hinter mir noch einer, der mir das Knie in den Rücken stieß und gleichzeitig diesen Strick in der Hand hatte. Freundlicherweise warnte er mich noch: Wenn ich nicht brav sei, werde mir auf der Stelle die Kehle abgeschnürt. In den ersten Reihen vor uns saßen lauter Kampfgruppenleute mit halbautomatischen Waffen in den Händen.

So standen wir auf der Tribüne; die Parolen, die man uns von unten ins Gesicht brüllte, waren vorher gedruckt verteilt worden. Sie waren sehr realistisch, wie „Über zehntausende Meilen von Flüssen und Bergen ziehen Heerzüge, zehntausende Meilen lang, ein Volk von 800 Millionen hat 800 Millionen Soldaten “ oder „bereit zum Kampf, bereit für jede Not, schlagt sie mit wilder Macht zusammen, schlagt Konterrevolutionäre tot “ oder „schützt mit eisernem Schlag die Flüsse und die Berge, streicht Konterrevolutionäre aus den Registern dieser Erde “ und was noch alles. Jawohl, zur Vorbereitung auf den Kampf setzte man bei uns das Messer an!

Vor der Schlacht werden Andersartige zur Opferbank geführt. Das war schon immer so, bei uns wie anderswo. Ich dachte an die Beschreibung in „Krieg und Frieden “, wie man, als Kutusow die Stadt Moskau aufgab, zuletzt noch einen „Politischen “ durch die Straßen geschleift und schließlich erschlagen hatte – ganz wie aus einem Pekinger Gefängnis irgendwelche Täter „nicht zu duldender Verbrechen “.

Als ich das las, hatte ich für das Opfer einer solchen Gewalttat, die selbst Vertierte entsetzen musste, tiefes Mitleid empfunden. Wer hätte gedacht, dass ich eines Tags in gleicher Lage sein würde!

Als wir am ersten Tag von so einer Versammlung zurückkamen, lief vor mir der Sieben. Sie hatten ihn zunächst in meine Nachbarzelle gesperrt. Jetzt, während die Wachtmeister damit beschäftigt waren, die zum Tode Verurteilten wieder ordentlich einzulagern, nutzte ich das Durcheinander, um an das kleine Fenster gelehnt dem Sieben zuzuflüstern: „Lies Mao! “ Dann fing ich an, leise an die Wand zu klopfen, wobei ich Maos Werke benutzte: ich klopfte soundsoviel Mal, um zuerst die Seite, dann die Zeile und zuletzt darin das Zeichen anzugeben, das ich übermitteln wollte.

Ich klopfte eine halbe Ewigkeit, bis er endlich kapierte, was das sollte. Ich wartete gespannt auf Antwort und bedachte nicht, dass noch das leiseste Klopfen in der Mauer weitergetragen und auch von den Wachtmeistern gehört werden konnte. Während ich mich gerade ganz auf die Klopferei konzentrierte, donnerte plötzlich die Zellentür auf, zwei Wachtmeister packten mich; ich konnte nichts sagen, da hatten sie mich schon in eine andere Zelle gesperrt und mir die Hände nun auf dem Rücken gefesselt.

Eigentlich hatten wir ja gar keine Geheimnisse, die wir uns mitteilen konnten, und nur noch wenige Tage, wir wollten nur letzte Gespräche, nur klagen.

Man hat Vorahnungen. In Raoyang war ich eines Nachts aus einem Alptraum aufgewacht, der mir noch vor Augen stand und sich nicht vertreiben ließ. Ich saß in diesem Traum mit vielen Freunden auf einem großen Laster, der durch schwarzen Nebel fuhr. Ich fühlte, wir wurden ins Gefängnis transportiert. Aber man sah nirgends Polizisten. Der Laster fuhr eine sonderbare Straße, von deren beiden Seiten unzählige Gassen abgingen. Der Laster hielt vor jeder Gasse an, damit man klar ein riesiges weißes Banner sah, wie es vor jeder Gasse hing. Auf diesen Bannern waren graue Schatten vieler Menschen zu sehen, wie Geister, anscheinend alles für diese Gasse bestimmte Gespenster. Ich verstand, das waren alles Hinzurichtende. Wieso denn das? Plötzlich wurde mir klar: Wir auf dem Laster boten noch ein buntes Bild. Aber wir würden in eine ebensolche Gasse kommen und uns ebenso in gespenstergleiche Fotografien verwandeln. In kalten Schweiß gebadet wachte ich auf. Damals hatte ich noch Glück. Es war nur ein Alptraum.

Jetzt kam der Alptraum wieder, fast unverändert. Ich dachte: Diese Gassen. Jede Gasse ist eine Gruppe von Hingerichteten. Wir kommen bald als Nächste dran. Die Behörde druckt und verteilt Dossiers zu unseren Todesstrafen. Das sind diese riesigen weißen Banner.

Ich konnte noch einschlafen in der Todeszelle, schlief aber nur sehr schlecht. Immer wieder durchfuhr mich ein scharfer Schmerz, gegen den ich nichts tun konnte, als ob sich ein Messer im Herz herumdrehte. Die Alpträume hatten nicht mehr so komplizierte Szenen und Abläufe. Ich träumte immer wieder: Ich trieb in einem pechschwarzen U-Bahn-Tunnel. In dieser U-Bahn hatte es anscheinend ein Erdbeben gegeben. Überall war ein Durcheinander von Stahlträgern, Betonblöcken, Pfosten, Holzbalken. Ich blieb in einer winzigen engen Lücke stecken. Langsam stieg eiskaltes Grundwasser hoch. Meine Nase klebte an der Tunneldecke, offensichtlich musste ich bald ersticken. Es gab keinen Ausweg. Ich konnte nur darauf warten, schließlich im Eiswasser zu ertrinken.

Noch nicht richtig wach, freute ich mich einen Moment: Ach, war ja ein Traum. Aber dann brachte mir der scharfe Schmerz zu Bewusstsein: Noch bin ich nicht tot. Aber ich bin im Hinrichtungsverfahren. Das menschliche Leben ist die meiste Zeit eintönig und uninteressant, man zappelt nur herum im grenzenlosen Meer der Bitternis. Nichts, woran sich zu erinnern lohnte, nur zwei Situationen vergisst du schwerlich: In der einen sinkst du im Meer der Bitternis rasch nach unten und wirst gleich ertrinken. In der anderen steigst du rasch vom Meeresboden auf, wirst gleich wieder frische Luft holen, den blauen Himmel, weiße Wolken, die Sonne sehen können und den Horizont deiner Bitternis.

In den Tagen und Nächten in der Todeszelle drückte es mich ständig bleischwer auf den Boden, als könnte ich bald nicht mehr atmen.

Mittags bekamen wir zwischen zwei Versammlungen immer auf einer Polizeistation was zu essen und konnten ein wenig verschnaufen. Einmal nutzte der Arzt, Tian Shuyuan, die Gelegenheit, um mir zuzuflüstern: „Nicht verzweifeln! Wachtmeister Ma hat mir gesagt: Für uns gilt: Hart verurteilen, dann Milde walten lassen! “ In seinen Augen glomm Hoffnung.

Ein andermal fragte mich Shen Yuan*, der hochbegabte junge Historiker aus dem Institut für Zeitgeschichte: „Wie meinst Du, fällt das Urteil aus? “ „Todesstrafe. “ „So billig? Langjährige verschärfte Zwangsarbeit für mehr als die Hälfte von uns! “ „Unmöglich. Yu Luoke* sagt, die ganze letzte Gruppe ist schon hin. Wie sollen sie bei uns plötzlich Milde walten lassen? Träum nicht. “ Er sah mich an und schwieg. Zurück im Gefängnis, drehte er durch. Manche sagten, er spiele den Wahnsinn nur, andere, er sei wirklich wahnsinnig geworden. Für die letzten Tage war die Wahl dieser Rolle jedenfalls auch eine Möglichkeit.

Einmal warteten wir im Versammlungssaal der Schwermaschinenfabrik hinter der Bühne auf den Abtransport, als Sun Xiuzhen hereinkam. Sie sah mich an. Seit der Zeit in der Studiengruppe hatte sie sich sehr verändert, hielt sich nicht mehr so aufrecht, war nicht einmal so voller Leben und doch gelassen wie damals, als sie in Jixian auf den Lastwagen kam. Es war, als hätte ein Strom in ihrem Herzen aufgehört zu fließen. Als sie mich sah, schien sie zu erstarren. Ihre Augen röteten sich.

Auf Befehl der Wachtmeister setzten wir uns auf den Boden.

Ihre Schultern zuckten. Sie weinte.

Eine Wachtmeisterin trat sie leicht gegen die Rippen. „Was weinst du? Was hast du heute? Warst sonst doch immer so stolz! “

Sie schluchzte weiter. Sie schien nichts um sich herum mehr wahrzunehmen.

Viele Jahre später begegnete ich einer vormaligen Zellengenossin von ihr, der Pekinger Medizinstudentin Li Shiquan. Sie erzählte mir: Suns Vater hatte vor 1949 einen kleinen Betrieb und war früh gestorben. Die Familie hatte ein wenig Geld. Xiuzhen war die zweite von drei Schwestern, alle tüchtig, geistig beweglich und auch mit den Händen geschickt.

Doch Xiuzhen erlitt das klassische Schicksal einer schwachen Frau, der die Liebe über alles geht. Warmherzig war sie, gefühlvoll, voller Anmut und Liebreiz, aber das Leben meinte es wahrlich nicht gut mit ihr. Zunächst wurde sie mit einem kümmerlichen Herrn verheiratet, der, wenn er von der Arbeit kam, immer zuerst der Mama und der großen Schwester Bericht erstattete. Xiuzhen biss die Zähne zusammen und hielt durch, lange freudlose Tage. Nach dem Abschluss des Studiums war sie als Werksärztin der Pekinger Stickerei zugeteilt worden. Das war eine kleine kollektiveigene Firma. Unverhofft tauchte dort, genesen von längerer Krankheit, ein weiterer Werksarzt auf, Tian Shuyuan, der sich an sie hängte wie eine Klette und zu Himmel und Hölle schwor, er müsse, müsse sie haben. Xiuzhen sagte später zu Li: „Ein Frau wartet doch ihr ganzes Leben darauf, dass einer sie von ganzer Seele liebt! “

Um Tians willen verlangte sie von ihrem Mann die Scheidung und blieb dabei. Wie sich denken lässt, gab es einen Skandal, Geschimpfe und Geschrei daheim und in der Öffentlichkeit. Aber schließlich wurde sie tatsächlich geschieden. Doch da wollte der Tian sie auf einmal nicht mehr und heiratete ein Mädchen guter Klassenherkunft. Sun Xiuzhen lernte: Liebe mag noch so romantisch sein, gegen die Realität kommt sie letztlich nicht an.

Als die Kulturrevolution ausbrach, bekam Tian in der Firma Schwierigkeiten, vielleicht war es ihm daheim auch allmählich langweilig geworden. Jedenfalls besann er sich auf seine alten Gefühle und erklärte Sun, er habe entdeckt, sie sei doch seine wahre Liebe. Aber in der Realität der chinesischen Gesellschaft habe er kein Geld, nichts zu sagen, keine Zukunft, und ihre Liebe führe hier auch zu nichts. Er stehe aber bereits mit den Sowjets in Verbindung, nur müsse Sun ihm jetzt mal helfen und zu bestimmten Zeiten seine Briefe in bestimmte Autos werfen; und nachdem sie sich so Verdienste erworben hätten, könnten sie gemeinsam in eine märchenhafte Zukunft in der Sowjetunion aufbrechen!

Sun Xiuzhen hatte keine Ahnung von Politik, sie hatte sich um solche Sachen nie geschert, und an seine Gefühle glaubte sie auch nur halb. Aber als sie in sein aufrichtiges Gesicht sah, entschloss sie sich, es zu riskieren – wenn er nun doch die Wahrheit sprach? So wurde sie zum Beihelfer.

Im Gefängnis war sie die ganze Zeit mit ihrer Kommilitonin Li Shiquan und mit Wu Shiliang zusammengesperrt. Im Lauf der vielen Verhöre war ihr klargeworden, dass Tian ihr nur Geschichten erzählt hatte, Geschichten aus 1001er Nacht, dass er ihre Sehnsucht nach Liebe ausgenutzt hatte. Im Gefängnis verglommen ihre Gefühle und Gedanken – Verstand und Herz wurden zu grauer Asche. Wenn die Wachtmeisterinnen sie bedrängten, verzerrte sich ihr sonst so warmes, liebenswürdiges Gesicht unversehens in kaltem kämpferischem Zorn. „Was für eine Schönheit sie war! “, sagte Wu Shiliang, „rabenschwarzes Haar, weiche sanfte Augen, zart und anmutig – wer hätte geglaubt, dass sie nie den Kopf senkte vor der Gewalt – aus sah sie wie die schöne Diaochan, aber in ihren Knochen steckte der wilde Zhang Fei[14]! “

Wus Sicht der Dinge war verständlich, aber Li Shiquan teilte sie nicht. Sun sei in diese Haltung nur hineingetrieben worden. In Wirklichkeit habe sie immer nur eine junge Frau sein wollen, die auf den Heißgeliebten wartete. Aber das Schicksal habe mit ihr gespielt, und hinter Gittern habe sie nur stark sein können.

Als wir in der Studiengruppe heimlich korrespondierten, hatten meine traurigen Briefe in Baudelairscher Manier sie eine Zeitlang gefreut und getröstet. Oder vielleicht war es auch nur ein Schimmer von Licht in dunkelster Nacht. Nur Li Shiquan hat sie meine Briefe lesen lassen.

Einmal, als sie über meine Briefe lachten, hatte Li gesagt: „Er mag dich gar so gern, mag gut sein, später, wenn ihr mal rauskommt, dass es noch was wird mit euch beiden. “ Aber Sun hatte nur traurig gelacht. „Ich bin verblüht, und er ist nur ein Student, ein Kind. Was weiß er denn von mir; und wenn er mich kennenlernt, was soll das dann viel werden mit uns? Wir haben nur diesen Augenblick, wie soll’s ein Später geben. “

Sie hatte ja auch recht. Damals hatte die Welt draußen mit uns nichts zu schaffen. Wir gehörten schon zu einer anderen Art. Mädchen, die mich mal mochten, oder die ich mal mochte, von denen träumte ich nicht einmal mehr. Ich wusste, die Zukunft konnte alte Träume niemals wieder zum Leben erwecken. Sun Xiuzhen – Kuriwa, sie war die sanfte Knospe im Dunkel meiner Haft.

Schluchzend saß sie an jenem Tag neben mir. Tagelang hatte man uns auf den Versammlungen zusammengeschrien, „bekämpft “, und das sah man: die Haare verfilzt, dreckige Gesichter, Blut rann uns überall über Hände und Füße. Sie schluchzte leise, sie schien der Wachtmeisterin zu antworten, aber ich wusste, in Wirklichkeit sprach sie zu mir: „Mein ganzes Leben, gar so sinnlos. Gekommen, ich weiß nicht warum, geh ich, weiß auch nicht warum. Ich wollte gerade leben, und da seh ich, die Chance hab ich nicht mehr. “

Die Wachtmeisterin verwies sie scharf: „Quatsch nicht! Wirst du hier verurteilt? Du brauchst dich nur ehrlich und aufrichtig der Kritik zu unterwerfen, dann gibt es einen Ausweg! “ Sun hörte auf zu schluchzen. „Welche Hoffnung mir bleibt und welche nicht, “ sagte sie, „das ist mir völlig klar. Ich hab’s nicht mit euch. Ich bin nur über mein eigenes Leben traurig. “

Die Hauptrollen hatten da wir beide. Wir standen auf, um auf die Bühne zu gehen, und da konnten wir uns ansehen. Ich bemühte mich, sie anzulächeln. Nickte ihr leicht zu. Sie sah mich durch Tränen an, so sanft und herzbewegend wie immer. Ich dachte, sie leidet auch um mich, sie liest in mir.

Wir mussten uns damals jeden Tag auf mindestens zwei Versammlungen „kritisieren und bekämpfen “ lassen. Von diesen Dutzenden von Versammlungen werde ich zwei nie vergessen.

Das eine Mal hatten sie mich in meine eigene Hochschule geschleppt, die Zentrale Kunsthochschule, auf die Bühne, die ich so gut kannte. Auf der hatte ich den alten griechischen Fabulierer gespielt, den Äsop. Da hatte ich zum Abschluss gestanden und laut gerufen: „Leute, hört des Äsop letzte Fabel: Fragt der Wolf den Hund: Wer hat dich so fett gefüttert? Sagt der Hund: Mein Herr! Ruft da der Wolf: Lieber verhungere ich, als dass ich deine Ketten trage! Leute – lasst mich als freien Menschen sterben! “ Ich hatte nicht gedacht, dass ich an diesem Tag hierher zurückkehren und die Jahrtausende alte Geschichte wiederholen würde.

Dass an diesem Tag meine Lehrer und Mitschüler so leidenschaftlich meine Erschießung von der Obrigkeit gefordert haben, das hat mich nicht verletzt. Ich wusste, es blieb ihnen nichts anderes übrig, sie hofften nur zu überleben. Auf der Scheide zwischen Leben und Tod spielen die Menschen unterschiedliche Rollen; die wahrste, packendste, dachte ich, die hab ich hier.

Das andere Mal brachten sie mich an die Hochschule, an der mein Vater unterrichtete, die Zentrale Hochschule für Kunstgewerbe. Sie hatten meinen Vater und meinen kleinen Bruder, Liaoliao, vorne vor die Bühne gezwungen. Ich sah, dass mein alter Vater ganz weiße Haare hatte vor Kummer und Sorge um mich; das machte alles für mich noch viel schwerer zu ertragen. Lange danach erst erfuhr ich: Als ich zum Tod verurteilt wurde, waren seine Haare über Nacht weiß geworden. Das wiederholte die alte Geschichte von Wu Zixu[15]. Ich sah, wie groß mein kleiner Bruder geworden war. So hilflos sah er aus, dünn und schwach. Ich hoffte, dass er meinem giftigen Dunstkreis entkommen konnte. Ich hätte mich mit ihnen verständigen wollen; aber ich konnte kein Wort mit ihnen wechseln.

Um ihnen wenigstens zu zeigen, dass ich körperlich gesund war, stampfte ich festen Schritts auf die Bühne und schob dabei meine schwere Fußkette im Takt klirrend vor mir her. Mein alter Vater und mein Brüderlein waren beide nicht dumm, wie ich ließen sie den Irrsinn der Masse unbewegten Gesichts über sich ergehen. Ist man gleichgültig, behält man die Kontrolle.

Als bei den Kampf- und Kritikversammlungen das erste Mal der „aktive Konterrevolutionär Zhang Langlang “ ausgerufen wurde, riss mir der Polizist in der Mitte hinter mir die Haare nach hinten, um der Masse meine „Fratze zu zeigen “. Das war dann das Verfahren bei allen Versammlungen. Vom zweiten Mal an hatte ich dafür einen friedlichen, freundlichen Gesichtsausdruck parat. Ich wollte die Leute wissen lassen: ich bin nicht zerschmettert, nicht am Boden zerstört, ich bin nicht der Feind, den ihr euch für eure Manöver vorstellt. – Diesmal zeigte ich ihnen ein schwaches Lächeln. Wer an dieser Versammlung teilgenommen hat, wird sich daran erinnern.

Am gleichen Tag tauchten der Vorsitzende des Straßenkomitees und zwei Polizisten bei uns zu Hause auf und wollten mit Mutter reden. Sie wussten, wir waren viele Kinder, und wenn sich da einer die Sache allzusehr zu Herzen nahm, konnte die Geschichte noch übler ausgehen. Deshalb sollte zunächst Mutter sich beruhigen. Mutter saß auf dem Balkon und schaute in die Ferne. Ein Polizist trat vor und erklärte: „Ihr Kind hat böse Dinge angestellt. Es hätte noch schlimmer kommen können, Sie können sich beruhigen. Aber jetzt kann niemand was tun. Keiner aus Ihrer Familie sollte jetzt an dumme Sachen auch nur denken, dass kein Unglück passiert. “ Mutter sagte gleichmütig: „Als ich klein war, habe ich gehört, dass sie Leute wie Tschernischewskij[16] zum Tod verurteilt haben, wegen dem, was sie geschrieben haben. Das waren für mich damals wirkliche Helden. Ich hätte nicht gedacht, dass mein Sohn auch so ein Mensch werden würde. Ich brauch’ mich nicht zu beruhigen. Ich bin stolz auf ihn. “ Der Komiteevorsitzende sagte hastig zu den Polizisten, die alte Dame ist durchgedreht, gehen wir, gehen wir.

Manchmal dachte ich auf der Rückkehr von solchen Versammlungen: War früher von einem „Leben schlimmer als der Tod “ die Rede, schien mir das eine unglaubwürdige, affektierte Phrase. Jetzt, wenn wir mehrmals täglich den „Massen “ vorgeführt werden, geht es uns noch viel schlechter als A Gui.[17] Nie bekommen wir Gelegenheit, unsere eigenen Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Nicht einmal einen Satz wie „Nach 20 Jahren kommt wieder ein guter Kerl “ dürfen wir singen, und dramatisch „Fußketten tragend diese lange Straße gehend, Abschied zu nehmen von den Freunden in der Heimat “ gönnt man uns schon gar nicht.[18]

Um rasch zu den Versammlungsorten zu kommen, warfen uns die Wachtmeister meist einfach wie lebende Schweine direkt auf einen Laster. Von den Blechplatten der Ladeflächen und den darauf hängengebliebenen Schneestücken waren unsere Gesichter blutig geschunden. Handgelenke und Knöchel waren über und über blutig, verletzt von den Handschellen und Fußketten. Man konnte nur Stücke aus dem Unterhemd reißen, am Zahnfleisch saugen, um sie zu befeuchten und sie langsam um die Wunden stopfen. So bringt man keinen wilden Wolf um, der sich hoch aufrichtet und gegen den Himmel anspringt. Nein, sie wollen dich wohl still und leise eingehen lassen wie einen räudigen Hund. Jetzt verstand ich die Haltung, die „nur einen raschen Tod “ verlangte.

Freilich gibt es immer Ausnahmen. Einmal war, als man mich aus der Todeszelle holte, die Luft unerwartet mild, der Himmel wolkenlos. Vielleicht wegen des Wetters waren die Wachtmeister auch besser gelaunt, sogar geduldiger. Sie warfen uns an diesem Tag nicht einfach nacheinander auf die Ladefläche, sie stellten auf einmal einen Stuhl neben den Laster. Zwei Polizisten hoben mich auf diesen Stuhl, ich hob die Fußkette hoch, und ein Polizist auf dem Laster nahm sie, während ich auf den Laster stieg. Oben saß links und rechts je eine Reihe Polizisten, ich setzte mich zwischen ihnen auf den Boden. Da sah ich, wie eine vertraute Gestalt auch auf den Wagen geladen wurde – meines Herzens Kuriwa: Sun Xiuzhen. Sie sah viel besser aus als das letzte Mal. Sie hatte sich wohl etwas gefasst. Sie hatte sich anscheinend sorgfältig gekämmt, gewaschen und zurechtgemacht. Sie war viel magerer als in der Studiengruppe, schien zierlicher. – Der große Laster holte nur uns beide. Ich dachte, das ist nun wohl unser Ende. Am letzten Tag noch die vom Herzen ersehnte Gefährtin, ist doch nicht schlecht.

Die Wachtmeister hießen uns Rücken gegen Rücken sitzen. Beim Hinsetzen tat sie, als sehe sie auf den Boden, und warf mir dabei, nur eine Sekunde lang, einen tiefen Blick zu. Sie versetzte mir, ich weiß nicht wie, einen elektrischen Schlag. In meinem Herzen entzündete sich an ihrem Blick ein kleiner goldener Funke.

Ich trug einen langen blauen Baumwollrock. Sie trug eine kleine geblümte Baumwalljacke. Unsere warmen Rücken lehnten gegeneinander. Die Polizisten um uns riefen sich Witze zu. Sie waren aus einer anderen Welt als wir. Sie sahen uns nicht, und wir sahen sie nicht. In diesem Moment gab es auf der ganzen Welt in meinem Herzen nur sie, die wunderschöne Kuriwa. Der Wagen setzte sich in Bewegung, ich drängte meine Schulterblätter eng an sie, und auch sie drängte sich so eng wie möglich an mich, unsere animalische Elektrizität und Wärme tauschten sich unsichtbar über unsere Rücken aus. Diese kurze Zeit lang seufzte mein Herz vor Glück. Ich hätte nicht gedacht, dass ich sie noch in der Todeszelle einmal ohne Abstand berühren würde. Zwei zum Tode Verurteilte, die sich so aneinander lehnen – in jenen Tagen war nur dies Heute honigsüß.

Wir wurden zu einer Kampf- und Kritikversammlung im Guanyuan-Stadion gebracht, uns hatte man die Hauptrollen zugeteilt. Außerdem wurde Wen Jia angebracht, eine Schülerin der Mittelschule bei der Pädagogischen Hochschule, die zum gleichen Fall gehörte wie die Pekinger Medizinstudentin Li Shiquan, beide hatten sich mit „reaktionären Tagebüchern “ vergangen. Später hörte ich, sie seien beide zu über zehn Jahren Haft verurteilt worden. Wir zum Tod Verurteilte waren schlimmer dran. Und unter den Todgeweihten hielten wir zwei noch an unserer letzten Liebe fest.

Abends, auf dem Rückweg in die Todeszellen, saßen wir zwei wieder auf dem Boden des Wagens, Rücken an Rücken. Wir hatten Glück, diesmal fuhren wir in einem Bus. Er fuhr die Chang’an entlang, das Licht der Straßenlampen fiel durch die Fenster auf den Boden des Wagens, glomm auf und verlosch, glomm auf und verlosch. Die hereinfallenden Lichtflecken färbten unsere letzte Romanze in bunten Farben. Einmal sanft, dann wieder eng hockten wir beieinander. Ich dachte, so jeden Tag fahren, um bekämpft und kritisiert zu werden, wär es auch wert. Mir war auch klar, uns blieb nicht viel Zeit, uns blieben nur diese paar Tage.

[1]    Huimin (回民): Vgl. Anm. 8.
[2]    Gemeint ist wieder Maos Frau Jiang Qing.
[3]    Spielzeug: die Liandong-Rotgardisten der ersten Stunde (vgl. oben 3., Hintergrund). ]
[4]    Ren Zhiming war gleichaltrig mit Guo Lusheng. Als Autor nur in Abschriften verbreiteter Poesie war er ursprünglich ebenso bekannt wie Guo Lusheng und Mou Dunbai, veröffentlichte aber nichts und geriet in Vergessenheit. 2008 starb er an Krebs.
[5]    Anfang eines Gedichts von Chen Yuyi, verfasst um 1130 (临江仙): 忆昔午桥桥上饮, 坐中多是豪英。 …
[6]    Damals waren die Aufgaben von Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht in „einem Arbeitsgang “ zusammengefasst und dieser Militärkommission unterstellt.
[7]    Song Shijie war ein kleiner Beamter der Ming-Zeit, Held eines historischen Films (1956) und einer alten Ballade. Selber zu Unrecht beschuldigt entlassen, setzte er sich für andere unschuldig Verfolgte ein.
[8]    Bannerleute (baqi zidi八旗子弟): Militärfamilien unter der letzten Dynastie. Deren Heer bestand aus 24 Bannern, darunter die acht Mandschu-Banner; nur diese meint der Verfasser mit „Bannerleuten “ und den „Acht Bannern “. Die Innere Behörde (neifu内府) war für die Angelegenheiten der Kaiserfamilie und der direkt dem Kaiser unterstehenden drei „Inneren Banner “ zuständig. Die Bannermänner des Innenamts waren Leibgarde und Diener des Kaisers und gewannen deshalb manchmal großen Einfluß. Vgl. wapedia.mobi/zh/正黄旗.
[9]    Sohn des Kangxi-Kaisers (1662–1723), nach Novellen der Qing-Zeit Tigerjäger und großer Kampfsportler.
[10]    Gestalt aus den „Räubern vom Liangshan-Moor “ (ab Kap.61), elegant, gut aussehend, begabter Musiker und nie sein Ziel verfehlender Armbrustschütze.
[11]    „Landesrettungstruppen “ (jiuguojun救国军) hießen die Partisanen der Nationalregierung, also der Guomindang, die im 2.Weltkrieg im japanisch besetzten Gebiet – insbesondere um Peking und im Nordosten – gegen die Japaner kämpften. – Blog vom 16.3.2009: „Feuerschaf “ mit der Überschrift „Suo Jialin und Wang Tao waren beide Bannerleute “ (索家麟和王涛都是旗人): „Am Mittherbstfest vor zwei Jahren waren wir am Sommerpalast. Beim Weisheitsmeer-Tempel sind wir an einen Bannermann geraten, so sechzigjährig; sagte, er sei dort geboren, lief mit uns herum, erzählte ein paar Anekdoten, machte weiter keinen Eindruck auf mich. Später umso mehr: Wir haben ihn in eine Kneipe vor dem Nordtor eingeladen, auf einen Schluck, Schnaps natürlich. Mit ein paar Gläschen wurde er immer vergnügter, erklärte uns, er sei im selben Fall wie Wang Tao und Suo Jialin ins Loch gekommen. Die beiden waren mir kein Begriff, ich merkte aber an der Reaktion meines älteren Bruders, was für große Namen das in jenen Jahren gewesen waren. Um uns zu beweisen, wer er war, hat dieser „alte Herr Jiang “ von zuhause noch die alte Grundstücksurkunde geholt und uns gezeigt. Er wohnt immer noch vor dem Nordtor in Dayouzhuang. “ Quelle: //blog.sina.com.cn/s/ blog_54ea5d9e0100c6bp. html (宁静的地平线 7).
[12]    Nach dem Volksglauben kommt man nach dem Tod zu einem Felsen oder einer Brücke, von wo aus man auf die Heimat blickt; dort steht eine alte Frau und reicht den Toten die Suppe des Vergessens; dann können sie unbeschwert über die Brücke oder am Fels vorbei weiterwandern. Wen aber noch etwas beschwert, der trinkt die Suppe nicht und beunruhigt die Lebenden weiter als Geist.
[13]    Westlicher Name der Lugou-Brücke, südwestlich von Peking. Dort, nahe einem alten muslimischen Friedhof, ist oder war jedenfalls noch 2003 ein Hinrichtungsplatz. Vgl. // hi.baidu.com/yszjh1/blog/item/ 925e432477ba0d32c9955968.html (雪峰股市随笔), www.xschina. org/show.php?id=8778 (四十年的卢沟桥).
[14]    Diaochan, Zhang Fei: Personen aus dem populären alten Roman „Die Geschichte von den drei Reichen “. Zhang Fei (167–221) war ein berühmter chinesischer General, einer der drei „Tigergeneräle “.
[15]    Wu Zixu, gest. 484 v.Chr., floh, nachdem Vater und Bruder vom König von Chu ermordet worden waren; auf der Flucht, in scheinbar aussichtsloser Lage, wurden über Nacht seine Haare weiß. (Darum erkannten ihn die Wachen an der Grenze nicht, die ihn festnehmen sollten.)
[16]    Nikolai Gawrilowitsch Tschernischewskij (Николай Гаврилович Чернышевский, chin. 车尔尼雪夫斯基), 1828–1889, russischer Schriftsteller, wollte eine Revolution im Sinne einer Rückkehr zum Bauernleben; er veröffentlichte kritische „Briefe “ an einen Ungenannten; gemeint war offensichtlich der Zar. T. wurde deshalb 1862 verhaftet und 1864 zu „zivilem Tod “, d.h. einer Art öffentlicher Entehrung, achtjähriger Zwangsarbeit in Sibirien und anschließender Verbannung verurteilt. Seine Novelle „Was tun? “ (1863) über einen revolutionären Asketen erwähnt Dostojewski in den „Dämonen “ ablehnend als Modewerk der Radikalen, sie hat Lenin stark beeinflusst. Früh übersetzt, hatte sie auch in China großen Einfluss.
[17]    A Gui (阿Q), ein armer Trottel, Held der gleichnamigen Novelle von Lu Xun.
[18]    In 20 Jahren kommt wieder ein guter Kerl “ (二十年后又是一条好汉), ruft traditionell der tragische Held vor seiner Hinrichtung (und ruft auch Lu Xuns „A Gui “), denn wiedergeboren und erwachsen geworden will er dann erneut als Held auftreten. „Fußketten tragend diese lange Straße gehend, nehmen wir Abschied von den Freunden in der Heimat, ob man uns köpft, das ist nicht wichtig, denn nur die Lehre, die muss wahr sein; wenn man mich einen tötet, kommen nach mir andere! “ 带镣长街行, 告别众乡亲, 砍头不要紧, 只要主义真, 杀了我一个, 自由后来人! war (vgl. //house.focus.cn/msgview/807/143096614. html) beliebt als Lied kulturrevolutionärer Kampfgruppen im bewaffneten Kampf gegen andere kulturrevolutionäre Kampfgruppen, ursprünglich aber ein Lied aus der Kampfzeit der KP und vorher mit ähnlichem Text ein Lied von Revolutionären gegen die Mandschu-Herrschaft. Vgl. //blog.yam.com/acptur/article/19479449 (务实面对癌症之后的省思): 带镣长街行, 告别众乡亲, 杀了我一个, 自有后来人。

 
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