OSTASIEN Verlag
  Kontakt
  Reihen
  Zeitschriften
  Gesamtverzeichnis
  Impressum
   
 
Revolutionäre Jugend
 
   
Jiang Wanzhu
 
   
„Guo Shiyings letzte Zeit an der Hochschule für Landwirtschaft“
 
   
(2)
 
   
   

Ob Guo Shiying 1967 die ganze Zeit in Peking war, ist mir nicht ganz klar. Ich bin im Juni nach Yibin gefahren, einen Monat dort geblieben und habe mit eigenen Augen gesehen, in welchem Ausmaß es da bewaffnete Kämpfe gab. Die übrige Zeit war ich in Peking und bin Guo Shiying oft auf dem Campus begegnet. Anfangs hab ich ihn Großer Guo genannt und er mich Kleine Mei (Aprikose), weil in meinem Namen ein Mei vorkommt; später hab ich ihn halb bewusst, halb unbewusst großer Bruder, Ge, genannt und er mich kleine Schwester, Mei, weil im Sichuan-Dialekt Großer Bruder und Kleine Schwester, Ge und Mei, genauso ausgesprochen werden wie das Guo in seinem Namen und das Mei in meinem – ein amüsanter Zufall; man mochte das dann verstehen, wie man wollte; ich will damit nur sagen, dass er mir, als ich wieder in Peking war, wirklich vorkam wie ein großer Bruder, wenn ich ihn sah, fühlte ich mich ihm nahe; und er sah in mir die kleine Schwester, die nichts wusste und verstand und brav auf ihn hörte. Wir waren oft beisammen und haben geschwatzt; als wir uns in Zhengzhou so unerwartet getroffen haben, wussten wir nichts von einander, er war noch vorsichtig und sagte nicht gleich alles, was ihm auf dem Herzen lag. Jetzt (d.h. ab 1967) waren wir miteinander ganz natürlich und unbefangen, darum glaube ich, dass es ihm von Herzen kam. Er sagte mir mal, einfach so, dass er schon eine Freundin habe, einige Jahre jünger als er; ich hoffte, er würde sie mal mitbringen, dass wir uns kennenlernen könnten; er sagte, wenn sich’s ergibt. Er sagte noch, wenn jemand seine Freundin sei, müsse, erstens, er für sie zahlen, und, zweitens, müsse sie genug Mut haben; keiner dieser zwei Punkte dürfe fehlen. Wenn aber jemand sein Freund sei, müsse nur er für den Freund zahlen, es sei unnötig, dass der Freund sich um ihn Sorgen mache. Ich verstand nicht, was er damit eigentlich meinte.

Im Gespräch sagte er auch, er spiele in einem Drama; das Vorspiel sei auf der Oberstufe des Gymnasiums aufgeführt worden, der Hauptteil auf der Peking-Universität, und auf der Landwirtschaftshochschule komme nun vielleicht der letzte Akt. Mir war völlig unklar, was er da sagte, er hat es auch nicht gut erklärt, aber undeutlich spürte ich, dass er sich aus düsteren Schatten nicht hervorringen konnte; immer wieder fing er aber mit den Geschichten am Gymnasium und an der Peking-Universität an; sie müssen ihn im Innersten berührt haben.

Er sagte, in der Grundstufe sei er auf das Pekinger Vierte Gymnasium gegangen, habe aber die Abschlussprüfung nicht bestanden und sei dann ein Jahr zu Hause geblieben. 1958 habe er dann die Aufnahmeprüfung für das Pekinger Gymnasium Nr. 101 geschafft. Nach Abschluss des Gymnasiums sei er zunächst auf die Hochschule für internationale Beziehungen gegangen und 1962 an die philosophische Fakultät der Peking-Universität gewechselt. Die Kameraden an der 101, sagte er, die waren einfach, die an der Peking-Universität düster, die an der Landwirtschaftshochschule kalt. Die Einfachheit war liebenswert, die Düsternis traurig, die Kälte entsetzlich! An der 101, das waren drei vollkommene Jahre. Kein Mitschüler hatte irgendwelche Hintergedanken, keiner hatte jemanden irgendwie in Verdacht. Ich war strebsam und wurde dafür auch belohnt. Aber wonach ich im Inneren wirklich strebte, stand im Widerspruch zu den Zielen, die die Schule (und in Wirklichkeit der Staat) verfolgte; das schmerzte, und dieser Schmerz erreichte seinen Höhepunkt nach dem Abschluss und bedrückte mich dermaßen, dass ich nicht mehr lernen konnte. Ich dachte, nur mit der Philosophie könnte ich meine inneren Widersprüche in eine Untersuchung auf theoretischer Ebene verwandeln, und so bin ich zu den Philosophen gegangen. Aber wer hätte es gedacht, diese neue Umgebung war „ein hoffnungsloses totes Wasser, in dem kein frischer Wind die kleinste Welle kräuselte“.[1] Ich verlor jede Hoffnung. Es gab schon welche, die sich Gedanken machten, aber jeder zündete seine eigene Flamme, und womöglich verbrannte ich dann dich, und du verbranntest mich. Nur wenn ich mit den alten Mitschülern aus der 101 zusammen war, fühlte ich, unser Feuer konnte sich mit ihnen zu einem Brand vereinen; natürlich wurde der Brand unseres Denkens sehr rasch gelöscht. Nachdem ich lange Zeit gegrübelt und meinen Körper gestählt hatte, wurde mir endlich klar, wie lächerlich und kindisch wir gewesen waren. Eigentlich wollte ich nicht weiter studieren, sondern auf dem Dorf bleiben, und bin dann doch hierher gekommen. Da ich aber nun einmal hier bin, habe ich mich entschlossen, gut zu lernen und mit meinem alten Ich völlig zu brechen; aber keiner von den anderen in meiner Klasse versteht mich. Ich möchte zur Einfachheit zurück und das geht nicht, aber ich glaube, dass die Zukunft besser sein kann.

Das Vorstehende ist kein Protokoll eines unserer Gespräche, sondern mein Gesamteindruck aus vielen Unterhaltungen. Ich spürte, er trug eine schwere Last, die er nicht loswerden, aber im Gespräch mit mir etwas erleichtern konnte. Ich glaube, dass er sich gewiss auch anderen Freunden geöffnet hat, und es kann mit ihnen unter vier Augen gut zu ebensolchen Gesprächen gekommen sein.

1967 ging es an der Hochschule für Landwirtschaft eigentlich relativ friedlich zu. An die ständigen Fraktionskämpfe hatte ich mich gewöhnt. Ich war schlechter Abstammung, die „Rebellen“ hielten sich von so jemandem fern, ich stand als „ungebundene Fraktion“ da. Anfangs war das unangenehm, aber da war nichts zu machen. Im zweiten Halbjahr ’67 stellte ich jedoch fest, dass es immer mehr „Ungebundene“ gab, die nun tatsächlich eine „Fraktion“ bildeten und ihre Ruhe hatten. „Ungebundene“ fragten nicht nach Politik. Manche stürzten sich in Liebesaffären, oder sie stellten Mao-Plaketten her, oder sie strickten, manche hielten Hähne, um ihnen Blut für Injektionen abzuzapfen [ein damals beliebtes Heilmittel der Volksmedizin für schwächelnde Kleinkinder], und viele kamen seit langem gar nicht mehr zur Hochschule, weiß der Himmel, wo sie ungebunden waren. Selbst unternahm ich nichts weiter, ich las die meiste Zeit, Guo Shiyings Bücher über Genetik und auch Romane. Die Hochschulbibliothek war „zerschlagen“ und viele „feudale, kapitalistische, revisionistische“ Romane waren in alle Winde zerstreut worden, ich hatte mir einige davon verschaffen können. Die Fahnenschwenker und Trommler in den Wohnheimen und sonst wo beachtete in dieser Zeit niemand mehr, so unterstützten die nun auswärts die Rebellenfraktionen; wer in der Hochschule geblieben war, mochte sich streiten, wenn ihn das interessierte, und wen’s nicht interessierte, der machte, wozu er Lust hatte; diese sonderbare Freiheit dauerte bis zum Jahresende an.

Das Hauptquartier der Roter-Osten-Rotgardisten hatte Guo Shiying angewiesen, Peking nicht zu verlassen und sich stets für Versammlungen bereit zu halten, auf denen er verdammt werden konnte, aber er stand nicht unter sonderlich strenger Kontrolle, er konnte nach Hause gehen, und ob wir uns trafen und uns unterhielten, interessierte niemanden.

Ich habe „Zehn Jahre von Hundert Menschen“ gelesen, Feng Jicais erschütternde Sammlung von Berichten aus der Kulturrevolution.[2] „Zettel suchen, um den Gatten zu retten“, der erste Fall in Fengs Sammlung, ähnelt etwas der Geschichte, die ich im Folgenden berichten will, weil sie mir Guo Shiyings gutes Herz gezeigt hat.

Am Abend eines sehr heißen Tages saß ich im Wohnheim und las, als eine Mitstudentin kam und mir sagte, draußen seien Besucher für mich. Es waren Guo Shiying und ein völlig ermattet wirkendes Mädchen von 15 oder 16 Jahren; er bat mich, ein Stück mit ihnen zu kommen. Wir fanden einen Platz zwischen den Blumenbeeten und setzten uns; er zeigte auf das Mädchen und fragte mich, ob sie ein oder zwei Tage bei uns im Wohnheim bleiben könne. Ich fragte, wer sie denn sei. Er sagte, sie sei aus Xiangtan in Hunan gekommen und heißt – wie heißt du?, fragte er sie. Ich heiße Luo Xiangyi, sagte sie. Guo Shiying sagte, es ist eine lange Geschichte, ich sagte, kein Problem, bei uns im Wohnheim sind Betten frei. Guo sagte, na gut denn, ich muss noch mal nach Hause, du hilfst mir und kümmerst dich um die kleine Luo, übermorgen komm ich bestimmt wieder. Zu Luo sagte er noch, mach dir keine Sorgen, das ist meine kleine Mei, meine kleine Schwester, mit ihr kannst du über alles reden. Damit zog er ein paar Lebensmittelmarken hervor, gab sie mir und verschwand rasch in der Abenddämmerung.

Ich zeigte Luo, wo sie sich hinlegen konnte; sie war todmüde und ist sofort eingeschlafen. Am nächsten Tag hat sie mir ihre Geschichte erzählt.

Sie sagte: Mein Vater ist Lehrer, er unterrichtet Chinesisch an einem Gymnasium in Xiangtan. Als sie bei uns die „Vier Alten Dinge“ zerschmettert haben [altes Denken, alte Kultur, alte Sitten und alte Gewohnheiten], Feudalismus, Kapitalismus und Revisionismus zerschlagen haben, da kamen nicht mal die Armbanduhren davon. Der Vater hatte eine alte Omega, die „Rebellen“ haben die herausverlangt. Er wollte sie nicht hergeben und hat zu dem Rebellen-Chef an der Schule gesagt, Armbanduhren sind nicht feudal kapitalistisch revisionistisch, der Vorsitzende Mao hat auch eine Armbanduhr. Der Rebellenchef sagt, du verleumdest den großen Führer! Beweis das doch mal! Der Vater sagt darauf, bei den Verhandlungen in Chongqing, 1945, da hat Guo Moruo gesehen, dass der Vorsitzende Mao keine Armbanduhr hat und hat seine eigene Armbanduhr abgezogen und dem Vorsitzenden Mao geschenkt. Wie der Rebellenchef das hört, haut er dem Vater kräftig eine runter und befiehlt seinen Bütteln, den Vater festzunehmen, weil der Verbrechen auf Verbrechen häuft, wie kann unser großer Führer was von anderen nehmen, das sind übelste Erfindungen! Du stellst dich gegen den Vorsitzenden Mao! Wer sich gegen den Vorsitzenden Mao stellt, der ist aktiver Konterrevolutionär! Der Vater sagt, das hab ich doch in der Zeitung gelesen, das hab ich nicht erfunden. Der Rebellenchef verlangt, dass ihm der Vater die Zeitung vorzeigt, aber wo soll er die denn finden, sie halten ihn fest, prügeln ihn die ganze Zeit. Was sollte ich machen, ich bin heimlich in einen Zug nach Peking, ich dachte, ich suche Guo Moruo, dass er den Vater rettet. In Peking hab ich mich auch wirklich zu der Wohnung von Guo Moruo durchgefragt, da bin ich gestern am Tor gestanden und hab gedacht, wie komm ich jetzt da rein. Und da ist gerade der große Bruder herausgekommen, und ich bin einfach weinend zu ihm hin und hab gesagt, ich will Guo Moruo sprechen. Der große Bruder hat gesagt, nun wein doch nicht, worum geht’s denn? Er hat mich ausgehört und dann gesagt, die Uhrengeschichte, die kennt er, die stimmt. Aber das muss ja bewiesen werden, dafür braucht er etwas Zeit. Dann hat er mich in ein Restaurant mitgenommen und mich was essen lassen und mich dann zunächst zu der Schwester gebracht, dass ich erst mal zur Ruhe komme. – Wer ist denn der große Bruder? Er ist so gut!

Ich sagte, er ist Guo Moruos Sohn. Da brach sie wieder in Tränen aus: Dann ist der Vater ja gerettet. Ich sagte, er ist bestimmt gerettet; sie weinte und weinte und war kaum zu beruhigen.

Einen Tag später gegen Mittag tauchte Guo Shiying wieder auf. Als er uns sah, zog er Fotos von zwei alten Zeitungsseiten hervor (ich habe vergessen, ob sie aus der Xinhua ribao waren oder der Dagong bao oder noch einer anderen Zeitung). Auf der einen stand ein Bericht über die Ankunft des Vorsitzenden Mao 1945 in Chongqing, auf der anderen waren Geschichten vom Aufenthalt des Vorsitzenden in Chongqing. Guo Shiying zeigte auf das zweite Foto und sagte, hier hast du die Geschichte, die dein Vater erzählt hat. Wir sahen genauer hin, da stand tatsächlich, wie Guo Moruo dem Vorsitzenden seine Uhr geschenkt hatte. Guo Shiying drehte das Foto um, auf der Rückseite standen zwei Zeilen elegant getuschter Schriftzeichen, Guo Moruo selbst hatte sie geschrieben. Gestern, sagte Guo Shiying, bin ich in die Bibliothek der Akademie der Wissenschaften gegangen [deren Vorsitzender Guo Moruo damals war], habe Zeitungen aus dem Jahr gefunden und Freunde in der Bibliothek gebeten, mir die zwei Fotos zu machen und gleich zu entwickeln. Als ich wieder zu Hause war, habe ich meinem Vater die Geschichte von Luos Vater erzählt, er war sehr gerührt und hat auf der Rückseite nochmals bestätigt, dass die Geschichte stimmt. – Guo Shiying steckte die beiden Fotos in einen Umschlag, den er Luo überreichte, außerdem drückte er ihr eine Bahnfahrkarte und gut zehn Yuan in die Hand. Das ist eine Karte für den Zug heute abend nach Changsha, sagte er, die Sache eilt, wir dürfen dich nicht aufhalten, fahr rasch zurück und rette den Papa! Wenn es noch Probleme gibt, schreib uns!, sagte er und ließ mich die Adresse aufschreiben, unter der mich Luo erreichen konnte. Luo dankte ihm weinend, ich schrieb ihr mit Tränen in den Augen die Adresse auf; wie ich den Kopf hob, sah ich, dass auch Guo Tränen über das Gesicht rannen.

Abends haben wir Luo zur Bahn gebracht und ihrem Zug nachgesehen. Du und dein Vater, habe ich auf dem Rückweg zur Hochschule zu Guo Shiying gesagt, ihr habt euch ja wirklich große Mühe gegeben, der kleinen Luo zu helfen. Er sagte, er habe ja nur getan, wozu er in der Lage gewesen sei, für ihn sei das Ganze weiter keine große Sache gewesen, für die kleine Luo freilich ein ungeheures Unternehmen. „Unterlass nicht etwas Gutes, weil es doch nur eine Kleinigkeit ist, tu nicht etwas Schlechtes, weil es doch nur eine Kleinigkeit ist,“ Den Satz, den habe er immer im Hinterkopf, das sei einer der Grundsätze, an die man sich halten müsse, wenn man ein Mensch sein wolle. Aber die Tat der kleinen Luo, die „tausend Meilen für Vaters Rettung“, die verdienten es wirklich, der Nachwelt überliefert zu werden. Mich hat das so bewegt, dass ich die zwei Nächte kaum geschlafen habe. Luo Xiangyi, was für ein schöner Name,[3] was für ein tapferes Mädchen! – Er seufzte. Wir schauten vom Bus in die tiefe Nacht hinaus und schwiegen.

(Später hat mir das brave Mädchen geschrieben, dem verehrten Herrn Guo Moruo gedankt und ebenso Guo Shiying; Guo Shiyings Fotos und die eigenhändige Bestätigung des verehrten Herrn Guo Moruo sind eine sehr große Hilfe gewesen, der Vater ist losgekommen…)

Einige Tage später kam er wieder auf die kleine Luo zu sprechen. So ein Unheil, wie es ihrem Vater zugestoßen ist, kommt wohl überall vor, sagte er. Ich hoffe wirklich, es kommt der Tag, an dem man nur einen Finger heben muss, wenn man irgendwelches Material braucht. Das würde nicht nur viele vor solch unerwartetem Unheil bewahren. Mehr noch, es wäre für jedermann eine große Hilfe. Vielleicht sollte ich das Fach wechseln, Bibliothekswissenschaft studieren, diese Wissenschaft von den Indices, wie man was findet, das ist gar zu wichtig! Wir können ja jetzt schon etwas tun. Ich möchte einen Band „Worte Lu Xuns“ zusammenstellen, in der Art wie die „Worte des Vorsitzenden Mao“, mit einem Kapitel für jeden Themenbereich. Auch einen „Index zu Lu Xuns Werken“ könnte man brauchen, in dem man zum Beispiel alle Stellen fände, an denen Lu Xun von Maulbeerbäumen schreibt oder von der Mondgöttin, alles nach Themenbereichen geordnet. Wenn man dann einen bestimmten Aufsatz oder auch nur einen Satz sucht, in dem davon die Rede ist, fände man ihn im Handumdrehen. – Er wollte sofort mit dieser Arbeit beginnen und fragte mich, ob ich nicht mitmachen wollte? Natürlich wollte ich. Er sagte, er wolle noch ein paar Freunde suchen, die sich beteiligen wollten, dann könne man die Arbeit aufteilen und zuletzt die Ergebnisse zu einem Ganzen zusammenfassen.

Außer den Werken des Vorsitzenden Mao bekam man damals noch am ehesten die Schriften Lu Xuns. Guo Shiying gab mir die Aufgabe, Sätze Lu Xuns zu bestimmten Themen – „Jugend“, „Literatur der Heimatverteidigung“ u.a. – herauszusuchen und auf Karten zu kopieren, die er für mich vorbereitet hatte. Ich sollte mir auch überlegen, wie man einen Index zu Lu Xun anlegen könne; er meinte, das werde wohl mehr Mühe kosten als die „Worte Lu Xuns“. Ich machte mich gewissenhaft an die Arbeit mit den „Worten“, füllte in knapp einem Monat mit Zitaten einen dicken Packen Karten und gab sie ihm; einen Index zusammenzustellen, sagte ich zu ihm, scheine mir aber doch zu schwer, das sei in ein paar Monaten und nur mit einigen wenigen Mitarbeitern wohl kaum zu schaffen. Er gab mir recht, die Arbeit an den „Worten“ habe bereits in dieser kurzen Zeit gezeigt, wie viel Mühe so was mache. Mit dem einen Lu Xun sei es schon so schwer, und wenn man nun zum Beispiel einen Eintrag zu diesem Namen, Lu Xun, zusammenstellen und dazu das ganze riesige Nebelmeer der Bücher durchsuchen wolle, sei das mit unsrigen jetzigen Methoden einfach unmöglich. Er hoffe nur, dass Wissenschaft und Technik vielleicht in der Zukunft dahin kämen, eine derartige Aufgabe bewältigen zu können.

Heute hat die Entwicklung der Computertechnik und das Entstehen großer Netze Guo Shiyings Hoffnung in einer Weise realisiert, wie er es kaum vorhersehen konnte. Gebe ich bei Google und bei Baidu „Guo Shiying“ ein, so bekomme ich in weniger als einer Sekunde 14.500 bzw. 17.300 Seiten! und ich habe das Gefühl, er sitzt wieder neben mir; er schaut schweigend auf den eigenen Namen und denkt gewiss: Ha! Mein Traum ist verwirklicht!

Jetzt, jetzt muss ich zu Guo Shiyings letzten Tagen kommen. Das ist für mich das Schwerste, das, woran ich am allerwenigsten rühren, mich am wenigsten erinnern will. Nichts im Leben ist grausamer, ich schreibe mit zitternder Hand und bitte mir zu verzeihen, wenn es sich verwirrt. Ich will auch mit meinen Geschichten nicht auf die Nerven gehen, was Guo Shiying zugestoßen ist, war ja kein Einzelfall; ich will nur am Beispiel der Verhältnisse an der Landwirtschaftlichen Hochschule dem Leser zeigen, was damals alles für Dinge geschehen sind.

Unsere (relativ) schöne Zeit war Anfang 1968 mit einem Mal vorbei. Alle an der Hochschule standen unter Druck. Man begann mit der „Säuberung der Klassenreihen“ [von politisch anrüchigen Personen]. Das Gebrüll von „Kritik und Kampf gegen die stinkende alte Neun“ [die Intellektuellen] wurde von Tag zu Tag lauter. Wir von der „ungebundenen Fraktion“ trauten uns keine Ungebundenheit mehr, jeden Tag musste man an irgendwelchen nicht enden wollenden kleinen und großen Kritik-und-Kampf-Versammlungen teilnehmen, organisiert für die ganze Hochschule, eine Fakultät oder eine Klasse von den Anführern der „Rebellengruppen“; kehrt in den Unterricht zurück und macht Revolution, hatten sie getönt; aber von Unterricht war jetzt keine Rede mehr, nur von Revolution. Verprügeln wurde ganz alltäglich, und ständig hörte man, dass jemand totgeschlagen worden war oder sich umgebracht hatte, als erster gegen Ende Februar der stellvertretende Gewerkschaftssekretär der Hochschule, An Tiezhi, der die Quälereien nicht mehr ertragen hatte, aus dem Klassenzimmer, in das man ihn eingesperrt hatte, geflohen und auf einen hohen Schornstein geklettert war und sich von ganz oben hinuntergestürzt hatte. Einmal sah ich mit eigenen Augen, was vor der Hochschule ablief: Da waren einige Personen mit roten Armbinden, die am Tor der Hochschule mit Ledergürteln reihum auf einen Mann mittleren Alters einschlugen und ihn dabei brüllend beschimpften: „Schlagt ihn tot, den Hundesohn! Abhaun willst du wohl! Abhaun willst du wohl!“ Binnen kurzem lag der Mann blutüberströmt am Boden und regte sich nicht mehr. Ob er noch lebte, war nicht zu erkennen.

Guo Shiying schien mir in großer Gefahr. Jedes Mal, wenn ich ihm begegnete, hätte ich ihm einschärfen mögen, dass er besonders vorsichtig sein, dass er sich schützen musste. Oberflächlich schien er wie immer; aber er hatte wohl eine Vorahnung einer unausweichlichen Katastrophe; eine unbekümmerte Unterhaltung war uns nicht mehr möglich. Anfang April sagte er mir, dass die Rebellenfraktion in seiner Klasse ihm befohlen hatte, nicht mehr ungehemmt herumzureden und herumzulaufen, er müsse immer brav in der Hochschule bleiben und sich zu jeder Zeit bereit halten, von den revolutionären Massen kritisiert und bekämpft zu werden. Was für revolutionäre Massen, sagte er zu mir, das sind doch einfach die von diesem Verein. Voll Angst fragte ich ihn, wollen die etwa die alte Geschichte wieder ausgraben? Er sagte, sieht so aus, als wollten sie da das Messer ansetzen, aber sie haben wohl noch andere Pläne. Hast du die Wandzeitung nicht gesehen? Wer da wohl gewagt habe, mit denen von der konterrevolutionären X-Gruppe und besonders mit mir so zartfühlend umzugehen? Sie wollen aufdecken, wer uns geschützt hat. Ich fragte, was willst du da machen? Er sagte, ich überlass mich halt meinem Schicksal. Kleine Schwester, weißt du noch? ich hab dir doch mal gesagt, die Landwirtschaftliche Hochschule, das ist der letzte Akt meines Dramas. Will sagen, wenn der Sturm seinen Höhepunkt erreicht hat, muss das Wetter umschlagen; ich glaube, wenn nach der letzten Szene der Vorhang gefallen ist, kann ich mit Leuten wie euch dann wirklich zu einem gebildeten neuen Bauern werden; das ist jetzt meine größte Hoffnung.

An der Hochschule war wohl schon sehr früh ein Revolutionskomitee eingerichtet worden. (Ob es vor dem April 1968 auch schon eine Arbeiter- und eine Soldatenpropagandagruppe gegeben hat, weiß ich nicht mehr genau.) Das Revolutionskomitee war allmächtig, „Kampf, Kritik und Umgestaltung“ und die „Säuberung der Klassenreihen“ an der Hochschule, das lief alles nach seinen Weisungen. Für die Steuerung der Landwirtschaft war damals dem Vernehmen nach Yao Wenyuan verantwortlich, und um die Kampagnen an der Landwirtschaftlichen Hochschule kümmerten sich die Kulturrevolutionsführer Wang Li, Guan Feng und Qi Benyu höchstpersönlich. Ich vermute heute, dass diese Leute, die sich mehrfach mit den Verantwortlichen des Revolutionskomitees der Hochschule getroffen haben, dabei auf Guo Shiying zu sprechen gekommen sein können. Dass sie dann angedeutet haben, man könne von dem X-Fall ausgehen, um ein Ziel zu erreichen, das man nicht deutlich aussprechen konnte. Dass dann das Revolutionskomitee zusammen mit seinen Leuten, sich dieses Rückhalts wohl bewusst, diesen diskreten Hinweis als höhere Weisung verstanden und den Wahnsinn bis zum Äußersten getrieben hat.

Meine Vermutung ist nicht aus der leeren Luft gegriffen. In unserem Gespräch Anfang April erwähnte Guo Shiying „Vater Hao“ und „Mutter Hao“: Er sagte, er wisse nicht, was er, wenn er einmal „Vater Hao“ und „Mutter Hao“ wiedersehe, zu ihnen sagen, wie er den beiden dann gegenübertreten könne. Ich habe ihn nicht gefragt, wer „Vater Hao“ und „Mutter Hao“ seien, aber diese beiden sonderbaren Bezeichnungen sind mir viele Jahre im Kopf herumgegangen. Ich habe immer angenommen, dass es sich um zwei hochgestellte Personen handelte. Während der Arbeit an dem vorliegenden Bericht habe ich bei Google und Baidu „Vater Hao“ und „Mutter Hao“ eingegeben, getrennt und dann noch jeden für sich, aber nichts von Belang gefunden. In Zhou Guopings „Autobiographie aus der Tiefe der Seele“ aber lese ich: „Nach Shiyings Tod kam Zhou Enlai zu den Guos und sagte: Shiying ist für mich gestorben. Das war ein Satz der Trauer und inneren Qual.“ Aus verschiedenen Quellen geht auch hervor, dass Ministerpräsident Zhou sich persönlich um den Fall der X-Gruppe gekümmert hatte und an seiner Regelung beteiligt war. War also der Bande an der Hochschule das wahre Ziel für ihr Vorgehen gegen Guo Shiying von oben, von Yao Wenyuan und seinen Leuten angedeutet worden – ging es gegen den Ministerpräsidenten? Meinte Guo Shiying mit „Vater Hao“ und „Mutter Hao“[4] Zhou Enlai und [seine Frau] Deng Yingchao? Ich hoffe, dass sich meine Vermutung einmal erhärten lässt.

Mitte April hatten sie Liu Shuqin, den stellvertretenden Dekan unserer Fakultät, festgesetzt und nächtelang verprügelt und verhört; er sollte „die Probleme offenlegen“. Die Hauptmacher der „Rebellenfraktion“ verprügelten ihn eigenhändig, Außenstehende ließen sie nicht zusehn. Danach schafften sie Liu Shuqin in einen Kellerraum von Block 5, dem Block, in dem wir wohnten, und befahlen mir, Prof. Lius Wunden zu versorgen und ihm entzündungshemmende Mittel zu geben; sie erklärten noch, das sei revolutionärer Humanismus, man könne ihn ja nicht sterben lassen. Täglich Prof. Lius von Wunden bedeckten Körper vor mir zu haben war unerträglich; ich verfluchte das Lumpenpack und machte mir zunehmend Sorgen um Guo Shiying: fall um Himmels willen nicht in die Hände dieser Leute, das sind Faschisten!

Eines Tags stand ich im Sanitätsraum, um für Prof. Liu Medikamente zu holen, und Gaze und Watte, um seine Wunden zu versorgen. Ich hörte, wie sich zwei vor mir in der Schlange Anstehende ganz leise unterhielten; der eine sagte, wir haben uns den Schuft, den Guo Shiying, geschnappt, fast wärn wir zu spät gewesen, und der Landesverräter wär zum Feind entkommen. Dann sagte er noch, jetzt wird er verhört, aber verstockt ist der, nichts sagt er… Mir dröhnte der Kopf, als ich das hörte, es wurde mir schwarz vor den Augen, fast wäre ich hingefallen, stützte mich aber gegen die Wand und zwang mich zur Ruhe. Ich wollte hören, was sie weiter sagten, aber sie hatten wohl gemerkt, dass ich lauschte, und schwiegen. Was ich am meisten gefürchtet hatte, war nun also eingetreten.

Ich verließ den Sanitätsraum und saß auf der Stufe davor, den Kopf völlig leer. Wie ich schon gesagt habe, bin ich jemand, der, wenn etwas Unvorhergesehenes geschieht, nicht weiß, was er tun soll. Später dachte ich: Vor allem muss ich schleunigst herausbekommen, wo sie ihn gefangenhalten, und einen Weg finden, um mit ihm zu sprechen. Ich stand auf und irrte zwischen den Wohnheimen, zwischen den Unterrichtsgebäuden, überall auf dem Campus herum, in der Hoffnung, einen Hinweis zu finden, wo er festgehalten wurde; ich ging auch noch welchen aus seiner Klasse nach, alles ohne Ergebnis. Wie es aussah, war man nach Plan und ganz insgeheim vorgegangen, womöglich hatten das welche aus dem Revolutionskomitee organisiert; in diesem Fall stand es jetzt noch übler um ihn.

Auf dem großen Campus der Hochschule, auch in den Wohnheimen, wurde damals in vielen Gebäuden eine Unzahl sogenannter Monster und vollkommen unschuldiger angeblicher Konterrevolutionäre festgehalten. Um sie an Flucht und Selbstmord zu hindern, wurden sie streng bewacht; Guo Shiying unter ihnen zu finden war leicht gesagt! Ich allein konnte das nicht. Ich dachte an einen älteren Landsmann, er hieß ebenfalls Guo und versorgte das Vieh der Fakultät für Viehzucht. Er war guter Klassenherkunft, in den Kampagnen aktiv und von der Dreierverbindung[5] der Fakultät ins Revolutionskomitee geschickt worden. Nach dem Eindruck, den ich aus normaleren Zeiten von ihm hatte, besaß er noch ein Gewissen und hatte sich wohl kaum daran gewöhnt können, wie die „Rebellen“ prügelten und folterten. Ich sagte zu ihm, Guo Moruos Sohn Guo Shiying sei festgesetzt worden, und ich wollte ihn sehen. Ob er mir helfen könne? Er fragte mich nach den Umständen, zögerte eine Weile und sagte schließlich: ich überleg mir was; von der Sache weiß ich bisher nichts, muss mich zunächst umhören, wo er festgehalten wird. Ich sollte warten, bis er mir Nachricht geben könne; wir sollten uns abends vor der Mensa treffen.

[1]    是一沟绝望的死水,清风吹不起半点涟漪。Zitat aus „Totes Wasser“ (死水), einem berühmten Gedicht von Wen Yiduo, geschrieben 1925 nach Wens Rückkehr aus den USA. Das „tote Wasser” bezieht sich auf China.
[2]    Yibai geren de shinian一百个人的十年 (Originalausgabe: Hongkong 1987, ab 1991 auch Ausgaben in der VR China), engl. Voices From the Whirlwind: An Oral History of the Chinese Cultural Revolution (New York 1991; im selben Jahr Reprint von Foreign Language Press in Beijing) = Ten Years of Madness: Oral Histories of China’s Cultural Revolution (San Francisco 1996), franz. L’empire de l’absurde, ou Dix ans de la vie des gens ordinaires (Paris 2001).
[3]    Xiangyi 湘漪 = Wellenkräuseln auf dem Xiang. (Der Xiang fließt durch Xiangtan.)
[4]    Hao kann ein Familienname sein; die Autorin schreibt Hao mit dem Schriftzeichen für diesen Namen (郝). Ebenso ausgesprochen, aber anders geschrieben heißt Hao „gut“ (好). Guo Shiying kann hier also auch von dem „guten Vater“ bzw. der „guten Mutter“ gesprochen haben. Die eigenen Eltern würde man aber nicht so bezeichnen. – Guo Moruo und Zhou Enlai kannten sich seit Jahren. Zhou hatte 1939 Guo zu der Ehe mit Yu Liqun gedrängt.
[5]    Die von Maos Gefolgsleuten in „Dreierverbindungen“ (sanjiehe 三结合) von Offizieren, „revolutionären“ Beamten und „Rebellenorganisationen“ organisierten Revolutionskomitees ersetzten ab 1968 die alten Leitungsorgane von Behörden, Institutionen und Unternehmen.

 
—> (3)