OSTASIEN Verlag
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Revolutionäre Jugend
 
   
Zhang Langlang
 
   
1   Ruhiger Horizont
 
   
(4)
 
   

Als dieser Tag vorbei war, holten sie uns plötzlich nicht mehr zur „Bekämpfung “.

Eines Morgens fingen sie an, öffneten Tür um Tür und riefen einen nach dem anderen zum Verhör. Ein Untersucher, Spitzname Behrbehr, ließ mich herauskommen, gab mir das Ende eines Stricks in die Hand, hieß mich die Fußkette hochheben und ihm folgen. Ich musste den Kopf senken und durfte mit den anderen Häftlingen nicht kommunizieren. Ich wusste, wir gingen ins Verhörgebäude, kamen aus den Todeszellen auf den kleinen Hof; obwohl ich den Kopf gesenkt hielt, konnte ich sehen, dass auf dem großen Übungsplatz in meiner Richtung vor mir im Abstand von einigen Metern noch ein zum Tod Verurteilter ging und noch einer, und dass hinter mir noch ein zum Tode Verurteilter folgte und noch einer; und mir entgegen kamen ebenfalls in Abständen von einigen Metern Häftlinge vom Verhörgebäude zurück. Wir waren wie Produkte auf einem unvergleichlich riesigen Fließband.

Ich verstand sofort: Der gigantische Apparat der Staatsdiktatur hatte sich in Bewegung gesetzt, daran konnte niemand mehr etwas ändern. Auf dem Fließband dieses Apparats waren wir Vieh auf dem Weg zur Schlachtung. Die Körper dieser lebensvollen jungen Leute, Körper von Fleisch und Blut, maßen sich mit der ungeheuren stählernen Maschine. Das war also ganz ehrlich. Wir hatten wirklich nie an Widerstand gedacht, aber da wir nun so weit waren, war auch nichts mehr zu machen. Ich wusste nicht, ob das warme unschuldige Blut, das die Maschine goss, ihre Schlachtmesser abstumpfen konnte.

Dies Verhör war knapp und rasch, nur wenige Fragen: „Wie heißt du? Wie alt? Woher bist du? “ – Und als letzte Frage: „Dein Verbrechen? “, und das war’s. Offensichtlich war das ein letztes Verhör, nur zur Überprüfung der Identität.

Zurück in der Zelle, begann im Flur ein Riesenlärm. Eine andere Sorte Polizisten kam, öffnete Zelle für Zelle, fragte uns nach Namen und Alter. Sie trugen sämtlich ganz neue Uniformen und dazu weiße Handschuhe, sahen auf die Nummern außen an den Zellen, diskutierten und riefen jemand zu Hilfe, wenn ihnen bei einer Zelle etwas unklar war, und korrigierten dann sorgfältig irgendwas. Ich wusste, das war Justizpolizei, das waren die Vollstrecker.

Am nächsten Tag (dem 5.3.1970), frühmorgens gegen vier, hörte ich mehrere Lastwagen, die bis vor unsere Mauer fuhren. Um fünf hieß man uns alle aufstehn, jeder bekam zwei Kornknödel, etwas Salzgemüse, ohne Suppe, auch kein Wasser. Ich wusste, bevor man zum Richtplatz gebracht wurde, musste man noch auf eine Urteilsversammlung, auf der das Endurteil öffentlich verkündet wurde; deshalb ließ man uns nichts trinken. Gegen sechs Uhr begannen sie, die Leute aufzurufen, einen nach dem anderen, wieder in Abständen von einigen Minuten.Wir saßen ruhig auf den Kangs und warteten auf unseren letzten Aufruf. Ich hörte sie Yu Luoke* aufrufen, Tian Shuyuan, Sun Xiuzhen, Wang Wenman, Song Huide, Suo Jialin, Wang Tao, Shen Yuan*, und so weiter. Zuletzt kam sogar die kleine Goldbohne an die Reihe. Und wir hatten ihm noch eine Botschaft aufgetragen!

Diese kannte ich alle, außerdem waren noch einige dabei, die ich kaum kannte, wie ein Absolvent der Peking-Universität namens Gu Wenxuan*, und andere. Ich hörte, wie jeder seine Fußkette in den kleinen Hof schob, dann – wummm – war er hingeworfen, kurze Zeit Geräusche, wie er sich abmühte, Stöhnen, dann wurde es ruhig, er wurde verladen, schließlich setzte sich ein Wagen langsam in Bewegung.

Ich verstand: Für jeden ein Wagen; und bevor der Todeskandidat vor die Urteilsversammlung gebracht wurde, musste er wie erforderlich „verarbeitet “ werden, das heißt, es musste ihm die Fähigkeit genommen werden, etwas auszurufen. Nach manchen wurde ihnen ein Holzball in den Mund gestopft, nach anderen schlug ein Polizist dem Häftling mit einem Handkantenschlag den Kehlkopf entzwei. Ich wartete und dachte: Ich werde doch einigermaßen Haltung bewahren können. Suo Jialin und die Seinen sind Kampfsportler und treten auch in Fußketten noch so ungezwungen auf, bewahren Haltung als Helden, und ich werde als Gelehrter Haltung bewahren.

Ich wartete und wartete und wartete … bis sie schließlich das Tor zum Todestrakt schlossen. War ich denn diesmal nicht dabei? Tatsächlich, ich war nicht dabei, und Sieben auch nicht.

Im Flur blieb es totenstill. Keiner von ihnen kam zurück an diesem Tag. Sun Xiuzhen – Kuriwa, war sie wirklich so gegangen? Ich weiß es nicht. Ich freilich hab irgendwie weitergelebt, und seitdem habe ich sie nicht wieder gesehen. Das Blut tropft aus dem Herzen.

Ich wusste, wie bei Yu Luoke: Todeskandidaten können den Ersten des Monats überstehen, aber nicht den Fünfzehnten. Wie es aussah, war ich erst das nächste Mal dran. Am Abend dieses Tages kam eine große Gruppe Neuer. „Eisern sind die Kasernen geschmiedet, gleich Wasser fließen die Rekruten “;[1] die Maschine arbeitete unbeirrt weiter.

Als die neuen Todeskandidaten wieder auf Kampf- und Kritikversammlungen gebracht wurden, holte man überraschender Weise mich nicht, man ließ mich unverhofft in Frieden. Ich starrte die mit Zement verputzte Mauer vor mir an. Darauf war mal was geschrieben worden, es waren auch Zeichen eingeritzt worden. Das hatte man alles herausgekratzt. Deshalb war die Wand fleckig wie von Resten von Schriftzeichen. Ich verstand, diese Menschen hatten zuletzt noch ein paar Zeichen hinterlassen wollen. Verstand jeder; vielleicht sollten’s zumindest die Häftlinge lesen können, die nachher kamen, um sauber zu machen; vielleicht hatten die Schreiber darüber gar nicht nachgedacht, und es war ihnen auch gleich, ob irgendein Lebender das noch sah, sie wollten einfach etwas hinterlassen. Vielleicht hatte es ihnen genügt, wenn sie’s selber ansehen konnten.

Ich dachte, wenn das so ist, was könnte ich noch schreiben? Ich bin vor kurzen 26 Jahren auf die Welt gekommen, jetzt geh ich so sonderbar, vom Wind verweht. Andere Menschen ebenso. Eine Generation ist rasch vom Winde verweht – schwerer als der große Berg Taishan, leichter als Schwanenflaum.[2] Aber das ist nur die Einschätzung der Nachgeborenen. Was macht das für einen selber aus? Welchen Sinn hat das alles?

Was macht es für einen Unterschied in der Natur, ob man 100 Jahre lebt oder 26? Mit diesem Gedanken kam ich auf etwas festeren Grund. Ich dachte, Mutter hat mir eine Stelle in der Bibel gezeigt, die meinen Gedanken jetzt entspricht. Ich verbrachte an die zwei Stunden, um diese Stelle, etwas abgewandelt, in acht Zeichen mit einer scharfen Ecke der Handschellen in den Zement einzuritzen:

Aus dem All kommend, kehren wir ins All zurück.

Als Junge hatte ich mehrere Tage an der „Stele für Zhang Qian “[3] geschrieben. Ein wenig schienen mir auch diese acht Zeichen wie für Erz und Stein gedacht.

Ich bin kein Christ, aber als ich diese acht Zeichen geschrieben hatte, fand ich Ruhe. Im Stück der letzten Tage hatte ich die letzten Stunden eines Menschenlebens gespielt. Nun sah ich mich so ruhig wie ein stilles Wasser.

[1]    铁打的营盘, 流水的兵。 Zeile aus einem Lied der Armee.
[2]    Nach einem vielzitierten Ausspruch Maos „hat jeder seinen Tod, entweder schwerer als der große Tai-Berg, oder leichter als Schwanenflaum “ 人固有一死, 或重于泰山, 或轻于鸿毛。 Schwerer als der Berg der Tod für den Nutzen des Volkes, also der Tod eines verdienten Kommunisten – leichter als Flaum der Tod von Ausbeutern und Faschisten, also von Gegnern der KP. („Dem Volke dienen “, 1944.)
Die Formel von Tod, Berg und Flaum stammt von dem großen Historiker Sima Qian, den Mao auch zitiert. Sima, Reichschronist, hatte sich für einen General eingesetzt, der ungeheurer Übermacht der Hunnen unterlegen war und schließlich kapituliert hatte. Sima hielt den General dennoch für tapfer und fähig, der Hof aber lastete ihm alles mögliche Übel an, sein Fürsprecher Sima wurde zu Kastration verurteilt und begründet nach Vollstreckung der entehrenden Strafe in einem Brief (um 92 v.Chr.), warum er trotzdem weiterleben wolle: jeder habe seinen [vorbestimmten] Tod – folgt die Formel –, es komme aber auf die Richtung des Lebens an, nicht auf den Tod; er lebe, um alle greifbaren Berichte aus Vergangenheit und Gegenwart zusammenzustellen und so die Wandlungen der Geschichte und ihre Gesetzmäßigkeiten („was zwischen Himmel und Mensch ist “) zu durchdringen,wie andere bedeutende Chronisten vor ihm; so könne er trotz dieser Schande ans Grab der Eltern treten (vgl. Dorothee Schaab-Hanke, Der Geschichtsschreiber als Exeget, Gossenberg 2010, S.369 ff.).
Kurz: Mao geht es um Sieg und Tod, Sima Qian um ein Leben für die Wahrheit.      
[3]    Stele für Zhang Qian (张骞碑) von 186 (jetzt im Dai-Tempel in Tai’an, Shandong), mit einer berühmten Inschrift in der Li-Schrift der Hanzeit, einem Duktus „wie in Erz gegossen, in Stein gemeißelt “, die gern als Vorlage für Kalligraphieübungen verwandt wird.

 
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