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  Nachwort der Übersetzerin
   
   

Tigermann

Roman von Eka Kurniawan

   

Aus dem Indonesischen übersetzt von Martina Heinschke

 
   
   

Reihe Phönixfeder 30
OSTASIEN Verlag

Paperback-Ausgabe (21,5 x 12,5 cm), 227 Seiten
2015. € 19,80, ISBN-13: 978-3-940527-92-9 (978-3940527929, 978394052929) ISBN-10: 3-940527-92-0 (3940527920)

Hardcover-Ausgabe (21,5 x 12,5 cm), 227 Seiten
2016. € 24,80, ISBN-13: 978-3-940527-93-6 (978-3940527936, 978394052936) ISBN-10: 3-940527-93-9 (3940527939)

Vertrieb: CHINA Buchservice / Bestellen

 
   
   

Ein dörfliches Wohngebiet am Rand einer Kleinstadt an Javas Südküste: Jeder kennt jeden, Alteingesessene leben neben neu Zugezogenen, die einen recht gutgestellt, die anderen mühsam um Arbeit und ein Auskommen kämpfend. Die Erzählung beginnt mit der Nachricht von einem brutalen Mord. Margio, ein stiller Junge, zwanzig Jahre alt, als Treiber bei der Wildschweinjagd allseits geschätzt, hat überraschend seinen Nachbarn getötet, nicht mit einer Waffe – er hat ihm vielmehr die Kehle durchgebissen. Der Roman kreist um die Hintergründe der Tat. Sprachlich präzise, dicht und mit ungewöhnlichen Metaphern lässt Eka Kurniawan Margios Welt entstehen: schwierige Familienverhältnisse, die Beziehungen zwischen den Nachbarn, die Bindung an die Großeltern, Margios Geschick bei der Jagd, die Unsicherheiten der ersten Liebe. Der Roman bietet eine überzeugende soziale und psychologische Darstellung, wobei der Rekurs auf den Tigermythos ein magisches Element einflicht und mit deren Grenzen spielt.

Eka Kurniawan, geb. 1975 in einem Dorf im Südosten Westjavas, ist einer der ideenreichsten und sprachgewandtesten zeitgenössischen Erzähler Indonesiens. Tigermann aus dem Jahr 2004 ist beispielhaft für seinen eleganten Erzählstil und zeigt ihn als Meister der Beobachtung und psychologischen Deutung. Der Roman wurde bereits ins Englische, Französische, Italienische und Koreanische übersetzt.

 
   
Leseprobe (Beginn von Kapitel 2)  
   

Der Tiger war weiß wie ein Schwan und zugleich scharf und mitleidslos wie ein Rothund. Mameh hatte ihn einmal für einen kurzen Augenblick gesehen, wie er, einem Schatten gleich, Margios Körper verließ. Davor und auch danach hatte sie ihn nie wieder zu Gesicht bekommen. Aber es gab ein Anzeichen, das sie wissen ließ, dass der Tiger noch in ihm war. Mameh kannte es gut, aber sie wusste nicht, ob andere Leute es auch sahen. Erkennbar war es nur in der Dunkelheit, wenn Margios Augen plötzlich katzengelb aufblitzten. Anfänglich hatte Mameh vor diesen Augen Angst, und noch mehr fürchtete sie, dass der Tiger nach draußen springen würde, aber mit der Zeit legte sich diese Furcht, und weil sie zu oft schon dieses in der Dunkelheit aufleuchtende Augenpaar gesehen hatte, war ihr nicht mehr bang. Er war kein Feind, der sie verletzen würde, im Gegenteil, der Tiger war wahrscheinlich da, um sie zu beschützen.

Margio selbst war ihm zum ersten Mal an einem Morgen begegnet; das war vor einigen Wochen gewesen, noch bevor er von zuhause fortgegangen war. Er hatte als einziger im Gebetshaus übernachtet, und als er am Morgen aufgewacht war, hatte kein Tablett mit dampfend heißem Kaffee neben ihm gestanden oder gar ein Teller mit Frühstücksreis – nein, vielmehr hatte neben ihm ein weißer Tiger gelegen, der sich die Pranken leckte. Margio war aufgewacht, weil dessen Schwanz vergnügt hin und her wippte und dabei seine nackten Füße traf, ganz so, wie wenn ihm Ma Soma mit der Hand leicht auf die Füße klopfte, um ihn für das Frühgebet zu wecken. Aber draußen war es schon hell gewesen, und der Regen hatte der Welt ein tiefgraues Gesicht gegeben – offenbar hatte es in der Nacht so stark gegossen, dass kein Mensch in der Morgendämmerung das Gebetshaus aufgesucht hatte. Natürlich hatte Margio sich ziemlich erschreckt, der Anblick hatte ihn so überwältigt, dass er nur still innehalten und voll Verwunderung auf dieses mit sich selbst beschäftigte mächtige Tier starren konnte.

Er wusste, dass das Tier nicht wirklich lebte. Während der zwanzig Jahre, die er jetzt schon auf Erden war, hatte er schon so häufig den Urwald am Rande der Stadt durchquert, aber noch nie war ihm solch ein Tier begegnet. Da gab es kleine Baumleoparden, Wildschweine und Rothunde, aber nie einen weißen Tiger fast so groß wie ein Rind. Er erinnerte ihn an seinen Großvater vor vielen Jahren. Ihm traten Tränen in die Augen, und er streckte ganz langsam seine Hand aus, um die vordere Pranke des Tigers kurz zu berühren. Sie lag tatsächlich als ein greifbares Ding da, mit einem Fell so weich wie ein Staubbesen, die Krallen eingezogen wohl als Freundschaftsangebot. Nun hatte er die zweite Pranke leicht angehoben, und Margio streckte erneut seine Hand aus, worauf der Tiger seine Pfote hin und her bewegte, wie ein junges Kätzchen, das spielen will. Margio versuchte geschickt zuzugreifen, aber der Tiger rollte sich auf den Rücken und wich aus, stellte sich unerwartet auf die Hinterbeine zum Angriff bereit, und bevor Margio sich in Sicherheit bringen konnte, stürzte er sich auf ihn, warf ihn zu Boden und rollte sich dort mit ihm, ließ dann aber von ihm ab, da Margio dem Gewicht nicht gewachsen war. Margio blieb liegen, der Tiger setzte sich neben ihn und putzte wieder seine Pranken. Da klopfte Margio ihm zart auf die Schulter und sagte:

„Großvater?“

 
   
Nachwort der Übersetzerin  
   

Eka Kurniawan wurde am 28. November 1975 in der Nähe von Tasikmalaya in Westjava, Indonesien, geboren. In seiner Kindheit, bis etwa zum Alter von zehn Jahren, wuchs er bei seinen Großeltern mütterlicherseits in einem abgelegenen, nur zu Fuß erreichbaren Dorf an der westjavanischen Südküste auf. Die folgenden Jahre verbrachte er bei seinen Eltern in der Kleinstadt Pangandaran, ebenfalls an Javas Südküste, wo er die sechsjährige Grundschule abschloss. Wenn auch teils surreal übersteigert, so erinnern die Handlungsorte seiner Romane an diese doppelte Heimat, und die vielen detailreichen Schilderungen bringen dem Leser die Lebenswelt der Menschen in dieser Region nahe. Die Fortsetzung seiner Schulbildung führte Eka Kurniawan für ein paar Jahre in den Haushalt einer Tante in der weiter im Inland gelegenen Stadt Tasikmalaya. Aus Langeweile und auch jugendlichem Übermut blieb er während eines Jahres wochenlang der Schule fern, er wanderte durch Westjava nach Jakarta und dann über die Nordküste zurück nach Tasikmalaya, wo er mittlerweile der Schule verwiesen worden war. Daher beendete er schließlich seine Schullaufbahn an einer Sekundarschule zur Lehrerausbildung in Pangandaran. Es folgte das Studium der Philosophie an der renommierten Gadjah Mada Universität in Yogyakarta, das er 1998 mit einer Arbeit über Pramoedya Ananta Toer und den sozialistischen Realismus abschloss.

Eka Kurniawan wuchs in einer Zeit auf, als das Suharto-Regime fest im Sattel saß. Nach einem (in Hintergründen und Details bis heute ungeklärten) Putschversuch linksorientierter Offiziere, bei dem in der Nacht auf den 1. Oktober 1965 sechs der wichtigsten Generäle und ein Hauptmann der indonesischen Armee entführt und ermordet worden waren, hatte Generalmajor Suharto zusammen mit gleichgesinnten Militärkommandeuren die sich ihm bietende Chance genutzt, Präsident Sukarno schrittweise auszumanövrieren. Die Jahre der Machtübernahme bis 1967 waren von einem blutigen politischen Umbruch begleitet: Die PKI, damals die größte kommunistische Partei in einem nicht-kommunistischen Land, sowie alle linksgerichteten Organisationen wurden verboten; Teile des Militärs begingen zusammen mit zivilen Gruppen ein Massaker an Hunderttausenden Kommunisten, Linksnationalisten und deren Sympathisanten; weitere zig tausend Menschen wurden über Jahre verhaftet, gefoltert und misshandelt. Zensur, Verdrängung und Angst ließen in der Folge eine politisch gleichgeschaltete Gesellschaft mit nur kleinen Spielräumen entstehen, wirtschaftlich öffnete man das Land für westliches Kapital, was einen enormen Modernisierungsschub, die Verringerung von Armut, aber auch wachsende soziale Ungleichheit mit sich brachte. Unbotmäßige Provinzen (Aceh, Papua) und das nach einer Invasion 1975 eingegliederte Ost-Timor litten unter der militärischen Gewalt des Regimes; andernorts ging ein Repressionsapparat aus Geheimdiensten und Militär gegen aufsässige Gruppen und Einzelpersonen vor. Obwohl in der Zivilgesellschaft immer wieder Kritik am Suharto-Regime laut wurde, sorgte erst die asiatische Finanzkrise dafür, dass sich die Opposition auf breiter Basis formierte und im Mai 1998 schließlich Suhartos Rücktritt erzwang. 

Die Anfänge von Eka Kurniawans Schreiben liegen in der Grundschulzeit, als er seine ersten Gedichte an die Kinderzeitschrift Sahabat schickte. Die damaligen Umstände deuteten keineswegs darauf hin, dass er zwanzig Jahre später als einer der innovativsten Autoren der Literaturszene gehandelt werden würde. Seine Heimatorte waren eine buchferne Welt: Im Haus der Großeltern gab es keine Bücher, und im Dorf herrschte Mündlichkeit. Seine Großmutter erzählte Märchen und lokale Legenden, und dann gab es noch eine Geschichtenerzählerin, die die Kinder mit ihren wundersamen Erzählungen fesselte – vermutlich das Vorbild für Ma Muah im Tigermann. In der Kleinstadt Pangandaran sah es mit Büchern nicht viel besser aus: Eine öffentliche Bibliothek oder auch eine Buchhandlung gab es dort nicht. Der junge Eka Kurniawan entdeckte aber zwei private Leihbibliotheken, die populären Lesestoff anboten: Horrorgeschichten, Comics sowie anderes aus den Genres, von denen es im Tigermann heißt, dass deren Erwähnung in der Schule tabu war. Für die Idee, selbst zu schreiben, mag ihm sein Vater Vorbild gewesen sein. Dieser hatte sein Lehrerstudium nicht zu Ende geführt und arbeitete daher als Schneider und Englischlehrer in einer Privatschule. In seiner Freizeit engagierte er sich als Prediger in der Moschee und verfasste Artikel religiösen Inhalts für islamische Publikationen. Auch in Tasikmalaya war die Schulbibliothek nur mager ausgestattet. Der großen Literatur begegnete Eka Kurniawan daher erst in seinen Studienjahren.  Dazu gehörte zum einen das Werk des großen indonesischen Prosa-Erzählers Pramoedya Ananta Toer, das während der Suharto-Zeit auf dem Index stand und nur unter der Hand kursierte, und zum anderen Romane von Knut Hamsun sowie von russischen, nord- und lateinamerikanischen Autoren. Dies alles interessierte ihn weit mehr als die Kurse im Fach Philosophie. „Während meines Studiums habe ich viele bedeutende literarische Werke gelesen. Es war, als hätte ich eine Landkarte gefunden. Mit der Literatur kann ich neue Wege entdecken, neue Wege bauen, unbekannte Routen erkunden.“ Bis heute ist Eka Kurniawan ein unermüdlicher Leser geblieben und stellt in seinem Blog auch regelmäßig seine Lektüren vor. Seine erste eigene literarische Buchpublikation war die Kurzgeschichtensammlung Coret-Coret di Toilet („Toilettengraffitis“), die im Jahr 2000 veröffentlicht wurde.

Viele seiner Erzählungen und Romane sind in ihrer Handlungszeit der Suharto-Ära zuzuordnen. Wie manche Autoren seiner Generation erinnert er beispielsweise in der Kurzgeschichte Bau Busuk („Verwesungsgestank“, 2002) an die Massaker und Morde der Suharto-Zeit und legt mit surrealen Bildern und satirischer Ironie die Absurditäten von Rechtfertigung und Verdrängung frei. Die Bissigkeit seines Humors mag daher rühren, dass trotz des Übergangs zur Demokratie die politischen Mythen der Suharto-Zeit weiterwirken. Der quasi-historische Roman Cantik itu Luka („Schönheit ist eine Wunde“) aus demselben Jahr deckt einen längeren Handlungszeitraum ab. Hier setzt der Autor die Mittel des magischen Realismus und der Groteske ein, zeichnet anhand der Familiensaga einer Prostituierten die Machtverhältnisse in einer fiktiven Stadt und arbeitet so die Kontinuitäten von Gewalt, Korruption und Konflikt von der Kolonialzeit über die japanische Besatzungszeit bis hin zur sogenannten Neuen Ordnung Suhartos heraus. Der Unterleib nimmt in diesem Roman prominenten Raum ein, nicht ohne politische Dimension.

In der Radikalität des kritisch distanzierten Blicks auf die eigene Gesellschaft und Kultur sind Eka Kurniawans Texte mit denen des späteren Pramoedya Ananta Toer vergleichbar. Das Vertrauen in das Gute im Menschen scheint aber noch stärker gebrochen. Tragik herrscht in den Texten beider Autoren. Nutzt Pramoedya sie als Appell an Humanität und Gerechtigkeitssinn, so zielt Eka Kurniawan durch Witz und überzeichnende Satire immer auch auf ein Lächeln oder Lachen, um bestehende Denkgewohnheiten aufzubrechen. In dem psychologischen Roman Tigermann tritt die ironische Lakonie im Lauf der Erzählung jedoch zurück und macht Platz für einen ebenso knappen Ton innerer Erstarrtheit und scheinbarem Unbeteiligtseins, wie sie die Erzählungen Traumatisierter kennzeichnen.  
Die frühe Sozialisation in der mündlich geprägten Tradition und die reflektierte Lektüre haben Eka Kurniawans ganz eigenen Stil geprägt. Bemerkenswert ist ein umfangreiches Vokabular, zu dem neben einem modernen Jargon auch Worte gehören, die in urbanen Kontexten nur selten verwendet werden. Seine Muttersprache Sundanesisch fließt nicht in die Texte ein, mehr das Javanische, soweit es ins Indonesische Eingang gefunden hat, während andere Worte aus dem Dialekt Jakartas kommen. Der Stil ist knapp und treffend; durch seinen Sinn für Humor werden gängige Sprachbilder immer wieder auf den Kopf gestellt. Auch die mündliche Erzählkunst hat ihre Spuren hinterlassen. Im Tigermann erinnern hieran die langen, durch Einschübe vielfach erweiterten Sätze, deren parataktische Reihung im Deutschen der Lesbarkeit zuliebe etwas abgemildert ist. Aus der Welt der Mündlichkeit stammt auch der abstrakte Erzähler, der nur als Stimme, nicht aber als Person identifizierbar ist. Zum erzählenden Gestus gehört auch, dass der Roman fast ohne Dialoge auskommt. Andere Merkmale weisen in Richtung Gegenwartsliteratur. Hierzu zählen die häufigen Perspektivwechsel, die dem Roman einen polyphonen Charakter geben. Postmodern mutet die Verwischung der Grenzen von hoher und trivialer Literatur an: Die Verführungsszenen erinnern verschiedentlich an die billige Heftchenliteratur, während in anderen Passagen der beobachtende Blick gewählt ist, mit dem in Schauer- und Kung-Fu-Romanen das Geschehen brutaler Gewalt detailliert beschrieben wird.

Bestechend ist die elegante Konstruktion: Obgleich Tat, Täter und Opfer vom ersten Satz an bekannt sind, gelingt es Eka Kurniawan, Spannung aufzubauen. Die mäandernde Erzählung kommt immer wieder auf die gleichen Ereignisse zurück und eröffnet stets neue Blickwinkel bis zu dem überraschenden Ende. Trotz der teils genau dargestellten Brutalität vermeidet der Text jede Polarisierung von Gut und Böse. Keine Figur ist allein verantwortlich für den tragischen Handlungsverlauf. Entsprechend geschieht die Problematisierung von Verhaltensweisen nur indirekt durch die zugespitzte Tragik und den punktuell eingesetzten ironischen Unterton.

Die Protagonisten des Familiendramas stehen an der Grenze zwischen Stadt und Land. Traditionelles Wissen steht neben Schulwissen, das für das Leben der meisten Protagonisten wenig Bedeutung hat. Sie kennen noch die mythische Welt, und der Roman lässt offen, ob die Erzählung metaphorisch oder abbildend zu lesen sei. Das in manchen Texten Eka Kurniawans überbordende magische Element ist im Tigermann begrenzt und zielgenau eingesetzt. Den Hintergrund hierzu bilden die Tigermythen, die in der westjavanischen Heimat des Autors besonders lebendig sind. Generell ist die kategoriale Grenze zwischen Mensch und Tier in den traditionellen Gesellschaften Südostasiens nicht so klar gezogen: Götter und Menschen können sich in Tieren inkarnieren, Lebende können Verbindungen mit Tieren eingehen, Tiere können Helfer, Beschützer und Heiler des Menschen sein, jede Kreatur ist von der gleichen kosmischen Kraft durchdrungen. Das Verhältnis zum Tiger stellt sich dabei als besonders zweideutig dar. Aufgrund seiner Kraft erscheint er in der Überlieferung als Beschützer, aber auch als Gefahr. Im ländlichen Kontext lässt sich diese durch die vormaligen ökologischen Bedingungen erklären: Mensch und Tiger teilten sich das Habitat am Rand des Urwalds; im Hinblick auf die Wildtiere waren sie teils Nahrungskonkurrenten; solange hiervon aber genug vorhanden waren, war der Tiger auch ein Helfer, da er scheu den Menschen mied, durch seine Präsenz und Jagd zugleich aber Ernte, Vieh und Siedlungen vor zerstörerischen Wildtieren schützte. Die überlieferten Taburegeln spiegeln diese Ambiguität: Damit er sich nicht herbeigerufen fühlt, vermied man es, das Wort Tiger auszusprechen. Die Ersatzbegriffe wie „Großvater“, „Ehrwürdiger“, „Herr“ zeigen aber auch Respekt und Hoffnung, die man in den Tiger setzte. Im höfischen Bereich wurde der Tiger mit der Macht und Gefährlichkeit eines Herrschers assoziiert, die zur Verteidigung seines Reiches notwendig waren. In Westjava steht er zudem für die alten, vorislamischen Traditionen: Über den letzten hinduistischen Herrscher dieser Region, Prabu Siliwangi, wird erzählt, dass er sich vor der Konfrontation mit seinem Sohn, der zum Islam konvertiert war, mitsamt seinen Gefolgsleuten in den Wald zurückgezogen hatte; dort wurden sie alle zu Tigern, die seither auf ewig in Tigerdörfern mitten im Wald leben und, sobald es ihnen beliebt, sich Menschen zeigen und diesen beschützend beistehen oder aber auch die Überschreitung der moralischen Ordnung ahnden.

Auch die mythischen Geist-Tiger sind nicht frei von Ambiguität. Der gute Geist-Tiger baut von sich aus eine Beziehung zu einem Menschen auf; anders ist es, wenn ein Mensch mit magischen Mitteln sich einen Geist-Tiger herbeizwingt, und derlei Tiger, so erzählt die Überlieferung, sind gefährlich, vor allem wenn ein Mensch sie inkorporiert und so zum Wer-Tiger wird. Überhaupt hat die Vorstellung von der Gefährlichkeit des Tigers seit Ende des 19. Jahrhunderts  zugenommen, seitdem mit Bevölkerungswachstum und Ausweitung der Plantagenwirtschaft Tiger und Mensch zu Konkurrenten und Feinden wurden, so dass der javanische Tiger heute ausgestorben ist, während der mythische Tiger in den Köpfen der Menschen weiterlebt: Die Furcht vor Wer-Tigern hält an, während ein Abglanz ihrer schützenden Kraft beispielsweise dem Tigerbalsam seinen Namen gibt.

Eka Kurniawans Tiger hat noch eine weitere Uneindeutigkeit: Ma Muah erzählt, dass nicht jede Tigerehefrau der Männer im Dorf ein Weibchen sein muss. Das Indonesische kennt kein grammatisches Geschlecht, und markiert selbst das Geschlecht von Personen in vielen Kontexten nicht. Das Deutsche bezeichnet die Spezies mit dem männlichen Geschlecht. Aus Äußerungen wissen wir, dass der Autor sich den Tiger im Tigermann aber weiblich vorstellt. Dem Leser bleibt es überlassen, sein eigenes Bild zu entwerfen. In der Mythologie sind als weiblich bezeichnete Tiger selten präsent. Zu Eka Kurniawans Neuerung passt, dass er in seinem Werk, trotz des kulturell gesehen männlichen Erzähltons, dem Schicksal von Frauen breiten Raum gibt. Damit steht er unter den männlichen Autoren Indonesiens nicht allein. Man denke nur an Bücher von Pramoedya Ananta Toer, Umar Kayam und Ahmad Tohari, um nur einige Beispiele zu nennen. Sind bei diesen die Frauenfiguren zugleich auch Symbole der Nation oder der javanischen Welt, so finden wir im Tigermann Frauen, die vornehmlich Menschen sind in einer harten, verletzenden, uneindeutigen Realität.